Im November des Notjahres1
Weltuntergang oder Strafe Gottes? Die Menschen in Europa und Nordamerika waren ratlos, als sich der Himmel im Frühjahr des Jahres 1815 plötzlich verdüsterte und das Wetter in den Folgejahren verrückt spielte: Sintflutartige Regenfälle und Frost im Frühjahr, Schnee im Juli, sommerliche Temperaturen im Winter. Die Bauern konnten sich erst viel später als sonst im Jahr der Aussaat widmen. Die durchschnittliche Jahrestemperatur sank um drei Grad Celsius.
Der Grund lag tausende Kilometer entfernt: Anfang April ereignete sich auf Sumbawa in Indonesien der gewaltigste Vulkanausbruch der Geschichte: Der Tambora spuckte 160 Kubikkilometer Asche, Geröll und Schwefelsäure-Aerosole aus. Das Material verteilte sich in der Atmosphäre und verursachte Missernten, Hungersnöte und in der Folge zehntausende Todesfälle weltweit.
Mit dem „Jahr ohne Sommer“, wie die Menschen 1816 nannten, hat sich Herwart Kopp schon 2005 befasst. Nun stieß der Archivar aus Holzhausen vor ein paar Wochen in einem Zeitungsband der „Sulzer Chronik“ aus dem Jahr 1918 zufällig auf ein interessantes Dokument, das unter der Überschrift „Merkwürdige Vorstellung auf die große Theurung der Jahre 1816 und 1817“ den Zusammenhang von Kriegen, politischen Umbrüchen, Teuerung und Not beschreibt. Einer der Gründe, aber nicht der einzige, war die Tambora-Eruption. Wie sehr die ausgehungerten Bürger sich über das Einfahren des ersten Erntewagens im Sommer 1817 freuten, ist auf einem Holzschnitt aus dem Reutlinger Heimatmuseum im oberen Teil des Gedenkblatts dargestellt.
1816 zogen mein Mann und ich nach Tübingen auf den Markt, um unsere Waren feilzubieten. Der Erlös war nicht groß und die Witterung sehr ungünstig. Es schneite und regnete, und weil die Leute sich des lieben Brotes wegen stark einschränken mussten, kauften sie wenig.

Nachdem wir Tübingen verlassen hatten, zogen wir die Steinlach hinauf, hausierten unterwegs etwas und erreichten endlich Ofterdingen. Der Abend kam heran. Mein Mann wollte nicht in Ofterdingen bleiben. Darum gingen wir nach Stockach. Nach drei bis vier Häusern teilte sich der Ort in zwei Gassen.
Mein Mann wählte die eine, ich die andere; wer zuerst eine Herberge fand, sollte dem anderen entgegenkommen. Als ich etwa im dritten Haus anfragte, sagte mir eine Frau, sie könne uns unter Umständen Unterkunft bieten, wir sollten aber erst einmal zum Schulmeister gehen; wenn der uns nicht behalte, sollten wir wiederkommen. Damit schickte sie mich das Gässchen hinunter.
Unterwegs begegnete mir mein Mann, der mich fragte: „Hast du eine Herberge?“ „Noch nicht ganz bestimmt; ich bin aber zum Schulmeister geschickt worden“, antwortete ich. „Von dem komme ich gerade; er will uns behalten“, sagte mein Mann. Wir wurden sehr freundlich aufgenommen. In der geheizten Stube mussten wir unsere Kleider zum Trocknen ausziehen und erhielten dafür andere von dem Schulmeister und seiner Frau. Die Unterhaltung mit dem Lehrer tat uns sehr wohl nach den schweren Tagen. Endlich wurde der Tisch gedeckt, es gab nur eine dünne Suppe. Wir bekamen die ersten Portionen, dann die vier oder fünf Kinder etwas kleinere.
Zuletzt blieb dem Schulmeister und seiner Frau nur wenig übrig. Als die fünf Kinder es sahen, wollten sie ihr Essen mit ihnen teilen; die Eltern aber sagten: „Esst, was ihr habt; wir haben genug.“ Der Schulmeister fragte hinterher seine Kinder, ob sie satt seien. Das eine Kind sagte, es habe genug; das andere, es könne schon bis morgen warten. Nun wandte er sich an uns: „Gelt, ihr lieben Leute, der liebe Gott kann uns auch mit wenigem sättigen. Wenn wir mehr gehabt hätten, hätten wir euch gern mehr aufgetischt; aber der, welcher mit fünf Broten fünftausend Mann gespeist hat, kann auch uns mit fünf Löffeln Suppe sättigen.“
Ich erschrak über diese Armut, und es tat mir leid, dass wir ihnen das kärgliche Abendbrot weggegessen hatten. „Habt ihr sonst nichts im Haus?“ fragte ich. „Nichts“, sagte die Frau, „gar nichts.“ Wir erschraken noch mehr. „Was werdet ihr aber morgen anfangen, wenn ihr nichts mehr habt?“ fragte ich. Der Schulmeister antwortete: „Darüber bekümmere ich mich nicht; ich habe mein Anliegen, Frau und Kind und was uns not tut, dem Herrn befohlen und bin getrosten Mutes; wenn er sieht, dass wir und unsere Kinder etwas bedürfen, so wird’s schon kommen.“

Wir erstaunten, und ich musste fast weinen. Auch mein Mann war gerührt, und es gefiel ihm gut bei dem Glaubensmann. Dieser aber merkte bald, wo es meinem Mann fehlte, und sprach ihm liebreich und ernstlich zu, er solle sein Vertrauen auf Gott und den Heiland setzen, der ihn, den Schulmeister, wie er bezeugen könne, noch in keiner Not habe stecken lassen. Endlich wurde das Nachtlager bereitet, Stroh auf den Boden gebreitet und Bettstücke daraufgelegt; das war für uns.
Wir konnten lange nicht schlafen. Als die Schulmeistersleute in gutem Schlaf lagen, hörte ich meinen Mann seufzen: „Ach, der Schulmeister! Ich muss immer an den Mann denken. Solche Menschen traf ich noch nie!“ Ich dachte für mich: „Ach, wenn wir doch auch so wären!“ Endlich fiel mir ein, was wir in Tübingen eingekauft hatten und mitgenommen hatten. Darum sagte ich zu meinem Mann: „Wie wäre es, wenn ich morgen das Frühstück zubereiten würde?
Wir haben ja Kaffee, Zucker und zwei Brote bei uns. Milch wird man sicherlich auftreiben können.“ Mein Mann war damit einverstanden. Endlich schliefen wir. Am anderen Morgen standen der Schulmeister und seine Frau früh auf. Als er in die Stube trat, rückte ich gleich mit dem Vorschlag heraus, für das Frühstück sorgen zu dürfen, wenn er nur etwas Milch bekäme. Die war bald aufgetrieben und alles zubereitet.
Als der Schulmeister herzlich gebetet und gedankt hatte, sagte er: „Hab’ ich euch nicht gesagt, wenn der Herr sieht, dass wir es nötig haben, so wird’s schon kommen? Jetzt ist’s schon da, es war schon im Hause – ich wusste nichts davon.“
Als wir uns nach dem Frühstück zur Abreise rüsteten, konnte ich mich nicht enthalten, den Schulmeister zu fragen, was sie wohl zu Mittag essen würden, da ja gar nichts im Hause sei. Er antwortete ganz vergnügt: „Dafür hat der liebe Gott schon gesorgt, da dürft ihr ohne Sorge sein. Ich wenigstens habe keinen Kummer, bis Mittag ist gewiss etwas da.“ Nun begleitete er uns ein Stück und zeigte uns einen Feldweg, auf dem wir eine Strecke Wegs abschneiden konnten.
Beim Abschied ermahnte er meinen Mann, voll auf Gott zu vertrauen und in der Furcht des Herrn zu wandeln. Als wir eine Anhöhe erstiegen hatten, sagte mein Mann, der bisher wenig gesprochen hatte: „Das ist ein frommer Mann, wenn doch alle Leute so wären!“
Während wir hinabstiegen, kam uns ein Mann entgegen, der einen Karren vor sich herschob. Wenige Schritte vor uns stellte er ihn ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Als wir grüßend vorübergingen, bemerkten wir, dass seine Last aus zwei gefüllten Säcken bestand. Neugierig wandte ich mich noch einmal um und fragte: „Ihr habt es wohl schwer?“ „Ja, freilich!“ antwortete er. „Nehmt mir’s nicht übel“, fuhr ich fort, „dass ich so neugierig bin; wo wollt ihr denn hin?“ „Nach Stockach hinein“, gab er Bescheid. „Was habt ihr denn so Schweres geladen?“ „Allerlei: Brot, Mehl, Kartoffeln, Gerste, Bohnen usw.“ „Wollt ihr das auf dem Markt verkaufen?“ „Ach, in Stockach wohnt ein armer, frommer Schulmeister, der wird jetzt in der bösen Zeit für sich und seine Kinder nicht viel zu beißen haben.“
Wir erstaunten über diese Worte. Der Unbekannte schaute uns fragend an, weil er sich unsere Anteilnahme nicht zu erklären vermochte. Da erzählten wir ihm, was wir beim Schulmeister erlebt hatten. Der Mann hörte bewegt zu. Endlich brach er wieder auf. Mit den Worten: „Jetzt muss ich aber weiter, wenn der Schulmeister mit seinen Kindern bis Mittag etwas Warmes haben soll“ schwang er das Band um seine Schultern und schob den Karren an.
Herkunft: Evangeliums Posaune