… in einer Industriestadt im Rheintal, 1848
An einem Abend des Jahres 1848 trat in einer Industriestadt im Rheintal ein armer, aber gottesfürchtiger und fleißiger Weber in sein Zimmer ein. Seine Frau und fünf Kinder hatten ihn offenbar erwartet, denn als er nun kam, liefen ihm die zwei kleinsten Kinder entgegen, die drei Größeren riefen lebhaft: „Papa, Papa!“ Seine Frau grüßte ihn freundlich.
Er legte den Wochenlohn, den er in der Fabrik verdient hatte, schweigend auf den Tisch und setzte sich mit einem halb unterdrückten Seufzer hin. Erschrocken sah seine Frau vom Geld auf dem Tisch in das bleiche Gesicht ihres Mannes. „Was ist mit dir?“, rief sie. „Du siehst ja so bekümmert und ganz elend aus! Ich hoffe – du wirst doch nicht -!“ „Sei ruhig“, sagte der Mann, „der alte Gott lebt noch! Freilich hat Herr Münter mich gekündigt sowie einem ganzen Drittel seiner Arbeiter.“ „Barmherziger Gott!“, rief die Frau. „Gekündigt?!
Also keine Arbeit und kein Brot mehr? Das ist nicht möglich! Erst vor 14 Tagen hat dich ja dein Chef so gelobt und den anderen als Muster vorgestellt! Das also ist der Lohn für deinen 13-jährigen Dienst!?“ „Ich begreif ’s auch nicht; es ist ein dunkler Weg. Als die Namen der Entlassenen gelesen wurden, dachte ich, da kommt dein Name gewiss nicht vor. Doch da hörte ich auch meinen Namen. Was meinst du, wie mir da zumute war?
Sobald ich mich gefasst hatte, stellte ich dem Chef in aller Bescheidenheit vor, dass er doch immer mit meiner Arbeit zufrieden war. Dann fragte ich ihn nach dem Grund, warum er mich fortschickte. Herr Münter aber sah mich an und sagte kalt: „Es bleibt dabei: Bei mir habt Ihr jetzt keine Arbeit mehr! Da nehmt Euer Geld, und wir sehen uns nicht mehr!“ Die Mutter brach in lautes Schluchzen aus. Die größeren Kinder suchten vergeblich, ihre Tränen zu unterdrücken, und die Kleinen schrien mit, ohne zu wissen, warum.
Der Vater konnte kaum seine Fassung behalten, obgleich er sonst zuversichtlich geglaubt hatte, dass alle Haare auf unserem Haupt gezählt sind. „Jammert doch nicht so“, sagte er endlich tröstend, „als ob kein Gott mehr im Himmel wäre. Wir haben erst gestern Morgen gelesen: ‚Euer Vater weiß, was ihr bedürfet, ehe denn ihr ihn bittet‘ (Matthäus 6,8). Der Vers war mir gleich besonders wichtig. Ach, jetzt weiß ich, warum!“ Zu seiner Frau gewandt, sagte er dann: „Weißt du, Mutter, was das Wichtigste ist?
Ernstlicher beten wollen wir, dass die Liebe Gottes immer reichlicher in unsere Herzen ausgegossen wird. Kinder Gottes wollen wir sein und bleiben durch den Glauben an Jesus. Dann dürfen wir auch unsere Sorgen auf ihn werfen. Er sorgt für uns, und es muss uns alles, auch diese Not, zum Besten dienen.“ – Der Vater befahl seine Wege mit völliger Ergebung dem Herrn an und lebte in der Hoffnung, er würde alles wohl machen. Am Montag ging er früh aus, um bei mehreren Firmen nach Arbeit zu fragen.
Abends aber kam er betrübt ohne Arbeit wieder heim. Die ganze Woche ging vorüber, ohne dass sich die geringste Aussicht zeigte, eine Arbeit zu finden. Eines Morgens stellte die Mutter die Suppe auf den Tisch, legte zwei Stückchen Brot dazu und sagte traurig: „Nun ist das Geld alle, kein Brot oder Mehl mehr im Haus. Wenn wir nichts übriglassen, so ist dieses sogleich unser Mittagsund Abendessen!“
Den drei älteren Kindern wurde es ganz schwer ums Herz und einer nach dem andern sagte: „Ich habe keinen Hunger. Fritz und Christinchen sollen essen!“ Der Vater aber sagte recht zuversichtlich: „So viel wir bedürfen, wollen wir im Glauben essen und nicht im Unglauben hungern. Die Barmherzigkeit des Herrn hat kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und seine Treue ist groß!“ Daraufhin sprachen die Kinder ihr Tischgebet, und nachdem alle gegessen hatten, blieb noch etwas übrig. Sie vergaßen nach dem Essen auch das Danken nicht. Daraufhin eilten die drei Kinder zur Schule. Der Vater ging noch einmal auf Arbeitssuche.
Die Mutter rief innerlich zu Gott und öffnete ein Fenster, um ihren Lieben nachzuschauen. Dann brachte sie die Wohnung in Ordnung. Plötzlich hörte sie in der Stube etwas auf den Boden fallen. Sie fürchtete, es könnte eins der beiden kleinen Kinder sein. Aber die saßen noch am Tisch und versuchten, ihre Teller noch sauberer zu machen. Aber auf dem Boden lag ein toter Rabe, und vom Fenster weg sprang ein Junge, der als roh und bösartig bekannt war. „Da, ihr Mucker, habt ihr auch etwas zu essen!“, rief er noch mit Hohngelächter.
Die Webersfrau hatte eben erfahren dürfen, wie unter ihrem stillen Herzensgebet die Sorgen und der Kummer zum Schweigen kamen und Geduld und Ergebung in den Willen Gottes in ihr aufkeimten. Aber dieser Spott traf ihr Gemüt so sehr, dass die Tränen mit Macht hervorbrachen. Als ihr Mann nach Hause kam, sagte sie zu ihm: „Da sieh, wir sind schon mit unserer Not ein Spott für die bösen Jungen geworden.“
Der Weber nahm den toten Vogel auf und wollte ihn seiner Frau aus den Augen tun und hinauswerfen. „Das arme Tier hat auch wohl Hunger gelitten und musste darum sterben. Aber nein“, setzte er hinzu, „es hat einen vollen Kropf, aber so hart – was ist denn das?“ Damit zog er sein Taschenmesser heraus und schnitt den Hals des Vogels auf. Voll Verwunderung sahen er und seine Frau ein gelbes Kettchen und etwas wie Glas hervorglänzen. Zu ihrem größten Erstaunen sahen sie eine Goldkette mit funkelnden Edelsteinen auf dem Tisch liegen.
Der Weber nahm den Vogel mitsamt der Kette und eilte zum Goldschmied, um herauszufinden, wer wohl der Eigentümer sein könnte. „Weber“, sagte der Goldschmied, nachdem er die Kette genau geprüft hatte, „die Kette gehört Herrn Münters Tochter. Ich habe sie selbst gemacht.
Vor etwa 14 Tagen erzählte er mir, dass diese Kette weggekommen sei. Tragt sie nur gleich selbst hin.“ Freudig machte sich unser Weber auf den Weg zu seinem ehemaligen Chef. Und viel lieber noch ging er zu ihm, weil er ihm nach der Kündigung und Kränkung einen Gefallen erweisen konnte. Die Tochter stieß einen Freudenschrei aus, als der Weber ihr den Schmuck übergab. Und sogleich wurde der Vater herbeigerufen. „Du armes Mohrchen!“, sagte die Tochter, „hast immer ‚Dieb‘ gerufen und bist nun selber zum Dieb geworden.
Hast nur weniger Glück gehabt und hast dein Leben deswegen lassen müssen.“ Herr Münter schaute ernst und nachdenklich drein, reichte dem Weber die Hand und sagte: „Vergebt mir, lieber Freund. Ich habe euch Unrecht getan. Ich habe Euch mit der Kette in Verdacht gehabt. Ihr wart der einzige Arbeiter, den man an dem Tag, als das Schmuckstück abhanden kam, am Zimmer meiner Tochter vorbeigehen sah.
Von heute an seid Ihr wieder in meinem Dienst, und zwar für Lebenszeit und mit doppeltem Lohn.“ Der Weber konnte kaum Worte zum Dank finden, eilte heim, und nachdem sich die Freude und der Jubel zu Hause etwas gelegt hatten, dankte er aus vollem Herzen dem Gott, der Wunder tut. Der ihnen durch einen toten Vogel allen Brot und ihm besonders seinen guten Namen wieder verschafft hatte.
Herkunft: evangeliumsposaune.org