Jesus gründete keine Religion
Das Geheimnis des Jesus von Nazareth
Einige Punkte der Verdeutlichung, warum der Glaube an Jesus keine Religion ist und nie war.
Wer verstehen möchte, wer Jesus gewesen ist, muss begreifen, dass Jesus nicht war, sondern eine verpflichtende Gegenwart darstellt. Die Antwort auf die Frage nach Jesu beginnt damit, dass man anfängt, das eigene Leben mit den Augen des Mannes aus Nazareth zu betrachten. Man fühlt sich dann von ihm bei der Hand genommen, begleitet auf dem Wege zu sich selber, zu Gott und in eine neue Zukunft hinein.
Der Jesus, von dem die Jünger und die Evangelien berichten, war nie Vergangenheit, sondern ist Gegenwart, die Menschen hilft und sie in eine hoffnungsvolle Zukunft weist. Jesus ist der Mann, der wiederkommt, um uns zu sagen, wie gütig das Leben zu uns ist und wie es sich ausweiten könnte in Gottes Güte hinein.
Jesus hat nie nach Art der Schriftgelehrten gesprochen und gehandelt. In dem Sinn war er kein Rabbi, er wollte keine neue Religion stiften. Er wollte die Religion seiner Väter, das Judentum, in dem er lebte, auf seinen eigentlichen Kern zurückführen. Er wollte die Menschen mit Gott versöhnen.
Man bezeichnet Jesus als Propheten, denn er hat die eigene Identität zum Sprachrohr Gottes gemacht. In Gott geht sein ganzes Leben auf. Jesus ist ein Visionär, der die Begrenztheit und die Enge der Gegenwart aufbricht mit Bildern, die uns nicht vor die Wahl stellen zwischen Alles oder Nichts, Heil oder Unheil oder Gut oder Böse.
Jesus war ein Arzt, auch das wird im Neuen Testament berichtet. Aber nicht im Sinne einer professionellen Kunst, er heilte die Angst der Menschen durch seine Güte. Er legte Menschen die Hand auf und streichelte ihre Stirn und gab sie aus dem angstverwirrten Zustand sich selber zurück.
Jesus sprach als Dichter, nicht um der Literatur willen, sondern um den Menschen in die Seele und aus der Seele zu sprechen. Seine Bilder öffneten der menschlichen Existenz die Fenster zum Himmel. Jesus sah in den kleinen alltäglichen Dingen Gottes Handwerk. Eines seiner schönsten Gleichnisse ist das vom verlorenen Schaf. Jesus beschreibt die Alltagssituation eines Hirten, der am Abend feststellt, dass sich eines seiner Tiere verlaufen hat. Er weiss, dass er es suchen muss. So macht es Gott mit uns. Auch er gibt uns nicht auf. Mit seinen poetischen Bildern und Gleichnissen fasst Jesus den Gesang der Sehnsucht im Herzen der Menschen in Worte. Er berührt uns, sodass sich unter der Oberfläche etwas ändert. Es geht da nicht um Rhetorik, sondern um menschliche Berührung, die wohltut.
Mit seinen Reden und seinem Handeln wird Jesus unvermeidbar zum Revolutionär. Jesus sagt: «Auf den Thronen der Mächtigen sitzen die Herrschenden und willküren herab auf ihre Untertanen, sie lassen sich dafür noch Wohltäter nennen. Bei euch soll dies nicht so sein. Wer unter euch gross sein will, frage sich, wer am dichtesten auf den Boden gedrückt ist und wie man ihm aufhelfen kann.» Das ist die Kritik von Jesus an aller Art Politik, die ausgerichtet ist auf Macht. «Wer euch auf die eine Wange schlägt, dem haltet die andere hin», sagt er in der Bergpredigt. Und meint: Auf lange Sicht wird der Weg der Gewalt scheitern. «Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen», sagt er später bei seiner Verhaftung. Für ihn bedeutet Militär die Praxis endloser Gewalt.
Was die Justiz angeht, meint Jesus zu Beginn der Bergpredigt, wenn eure Vorstellung von Gerechtigkeit nicht diametral verschieden ist von jener der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr Gott nie verstehen. Die Frage ist nicht, wie man über Menschen richtet, sondern wie man ihnen in der Not gerecht wird. Alles ändert sich, sobald man Jesus versteht.
Der Kern der Botschaft von Jesus
Die steht am Anfang des Markusevangeliums: Jesus steht am Beginn seines öffentlichen Wirkens. Er wird von seinen Erfahrungen umgetrieben, als er Johannes dem Täufer gegenübersteht. Johannes spricht von dem Gericht, mit dem Gott droht, von der moralischen Strenge, mit der die Menschen ihr Leben ordnen sollen. Jesus hält dies für richtig, er glaubt dem Propheten am Jordan. Aber im Moment als er sich taufen lässt, öffnet sich der Himmel und eine Stimme sagt: «Aber du bist mein Sohn.» Diese Erfahrung prägt Jesus. Sie bildet den Kern seiner Botschaft, die er den Menschen schenken will. Da gibt es einen Gott, der nicht verurteilt, der niemals richtet, der wie ein Hirte auf die Suche nach dem verlorenen Schaf geht. Es kann auch dir im Leben passieren, dass du dich verlierst. Gott aber wird dich nie verstossen, sondern bei dir sein. «Ich bin doch dein Vater und du bist mein Sohn.» Gott vergisst dich nie. Davon lebt Jesus.
Das ist seine innere Erfahrung, die alles ändert. Johannes verlangte die Umkehr im Sinne einer moralischen Besserung. Jesus möchte die Umkehr von dieser Umkehr, er redet vom Vertrauen in eine unbedingte Güte, die uns empfängt, umhüllt, uns begleitet, uns sucht und uns betrifft, in jeder Lebenslage. Dieses unbedingte Vertrauen ist die Art, wie Jesus Kranke heilt, mit der er Menschen mit seinem Wort berührt, mit dem er den Himmel auf die Erde herunterholt.
Jesus wollte keine neue Religion gründen, er wollte die vorgefundene, sein Judentum, so verwesentlichen, dass es für alle Menschen gilt. Das Programm Jesu ist nicht das einer jüdischen Reformsekte, sondern seine Botschaft gilt für alle. Seine Botschaft sagt, dass kein Mensch einfach gut sein kann, nur weil er es will. Der Mensch ist nicht frei sich selber gegenüber, er lebt inmitten von Angst und Schuldgefühlen. Er muss befreit werden für ein Vertrauen, das ihm hilft, zu sich selber zu kommen. Was Jesus da entdeckt, können wir im 20. und 21. Jahrhundert mithilfe der Psychoanalyse ein Stück weit nachbuchstabieren.
Gewaltausbrüche im Namen der Religion nehmen zu, auch in Flüchtlingsunterkünften. Jetzt versteht man, warum Jesus, der Christus, keine Religion gegründet hat. Sind Religionen nicht immer wieder Opium für das Volk? Sie glauben, ihr Gott sei der Richtige, und sie leiten daraus einen Machtanspruch ab; auch diejenige Religion, die den Namen von Christus für ihre Zwecke missbraucht und den Religionskrieg einst mit den Kreuzzügen in die arabische Welt getragen hatte. Deshalb sind Nachfolger Jesu gegen äußere Religionen und ihr Treiben.
Wie wäre es, wenn es gar keine äußere Religion geben würde?
Wenn über allem die Versöhnung stehen würde, die Gottes- und Nächstenliebe im Freien Geist, wie sie Jesus von Nazareth vorlebte?