Dieser Psalm ist ein Kleinod für die Erlösten des HERRN (V. 2), denen er ein herrliches Danklied in den Mund legt. Wiewohl es Errettungen aus allerlei irdischer Not sind, die er feiert, so dass er von jedwedem Menschen, dessen Leben in Zeiten großer Gefahr erhalten worden ist, gesungen werden mag, so verherrlicht er doch unter dieser Hülle den HERRN vornehmlich für geistliche Segnungen, von denen jene zeitlichen Wohltaten nur Abbilder und Schatten sind. Das Thema ist: Dank gegen Gott, und die mancherlei Gründe zu solchem Lobpreis. – Der Psalm ist von hoher dichterischer Schönheit; schon wenn wir ihn nur als Kunstwerk betrachten, würde es schwer sein, in der schönen Literatur ein ebenbürtiges Gegenstück zu finden. Die Dichter der Bibel nehmen unter den Musensöhnen keinen untergeordneten Rang ein.
Einteilung. Der Sänger beginnt damit, dass er sein Lied den Erlösten widmet, die aus der Verbannung heimgebracht sind, V. 1-3. Er vergleicht dann ihre Geschichte mit den Erlebnissen von Wanderern, die sich in der Wüste verirrt hatten, V. 4-9, von Gefangenen, die in eisernen Banden gefesselt gewesen, V. 10-16, von Todkranken, V. 17-22, und von Seefahrern auf sturmbewegtem Meer, V. 23-32. In den folgenden Versen bilden die Gerichte, mit denen Gott die Bösen heimsucht, und seine Gnadentaten an den unterdrückten Seinen den Gegenstand, der den Dichter erfüllt, V. 33-42. Sodann schließt der Psalm mit dem die Lehre aus dem Ganzen zusammenfassenden 43. Vers, in welchem er bezeugt, dass wer die Werke und Wege des HERRN mit Fleiß betrachtet, sicherlich seine Güte erkennen und preisen wird.
Auslegung
1. | Danket dem HERRN, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich. |
2. | So sollen sagen, die erlöst sind durch den HERRN, die er aus der Not erlöst hat; |
3. | und die er aus den Ländern zusammengebracht hat vom Aufgang, vom Niedergang, von Mitternacht und vom Meer. |
1. Danket dem HERRN. Der Dank ist ja das Mindeste und zugleich das Höchste, das wir ihm geben können; drum lasst uns darin vollen Eifer anwenden. Der ganze Ton des Psalms beweist, wie ernst es dem Psalmisten mit dieser Aufforderung war. Lasst denn auch uns den HERRN allezeit mit aller Inbrunst preisen, mit dem Munde sowohl als auch mit unserem Wandel; lasst uns Dank sagen und Dank leben. Jehovah – das ist ja der hier gebrauchte Gottesname – will nicht mit Seufzen und Stöhnen, sondern mit Loben und Danken verehrt werden, denn er ist freundlich, wörtl.: gut; und dieser Dank sollte ihm aufs herzlichste dargebracht werden, denn seine Güte ist nicht gewöhnlicher Art. Er ist gut nach seiner ganzen Natur, seinem innersten Wesen, und hat sich also erwiesen in allen seinen Taten von Uranfang her.
Verglichen mit ihm ist niemand gut, auch nicht einer; er hingegen ist wesenhaft, beständig, im höchsten Maße, ja unermesslich gut. Wir leben Tag für Tag und Augenblick für Augenblick im Genuss seiner Güte und sollten darum auch, mehr als alle anderen Geschöpfe, seinen Namen erheben. Unser Lobpreisen sollte noch an Inbrunst gewinnen durch die Tatsache, dass seine Güte nicht etwas Vorübergehendes ist, sondern in der Erscheinungsform der Gnade sich ewig an uns erweist: und seine Gnade (wörtl.) währet ewiglich. Das Zeitwort “währet” ist von dem Übersetzer passend ergänzt worden, und doch wird dadurch der Sinn etwas eingeschränkt, dessen Fülle wir noch besser erfassen werden, wenn wir uns zunächst einen Augenblick die knappe Form des Grundtextes vergegenwärtigen: und seine Gnade – ewiglich. Wie diese Gnade nie einen Anfang gehabt hat, so wird sie auch nie ein Ende nehmen. Unsere Sünde machte es nötig, dass die Güte Gottes sich uns als Gnade erzeige, und dies hat sie getan und wird sie allezeit tun. Lasst uns denn nicht lässig sein, die Güte zu preisen, die sich so unserem gefallenen Zustand angepasst hat.
2. So sollen sagen, die erlöst sind durch den HERRN, oder schöner nach dem Grundtext: die Erlösten Jehovahs. Was immer andere denken oder sagen mögen, die Erlösten haben überwältigende Gründe, die Güte des HERRN zu rühmen. Ihre Errettung ist von besonderer Art, deshalb geziemt es sich für sie, auch besonderen Dank dafür darzubringen. Ihr Erlöser ist so herrlich, der Preis, um den sie erlöst sind, so teuer und die Erlösung so vollkommen, dass ihnen siebenfache Verpflichtung obliegt, dem HERRN zu danken und auch andere zum Lobe Gottes aufzurufen. Mögen sie sich nicht mit Gefühlen der Dankbarkeit begnügen, sondern auch das sagen, des ihr Herz voll ist; mögen sie selber lobsingen und ihre Miterlösten anreizen, in das Loblied einzustimmen. Die er aus der Not erlöst hat. Da sie aus gewaltiger Bedrückung durch eine noch gewaltigere Macht herausgerissen worden, sind sie vor allen auch verpflichtet, den HERRN als ihren Befreier preisend anzubeten. Ihre Erlösung ist unmittelbar göttlich. Er und niemand anders hat sie erlöst. Sein Arm hat ihre Befreiung gewirkt, und keiner hat ihm dabei geholfen. Sollten befreite Sklaven nicht die Hand küssen, die ihnen die Freiheit gegeben? Welcher Dank aber könnte genügen für eine Befreiung aus der Gewalt von Sünde, Tod und Hölle? Im Himmel selbst gibt es kein lieblicheres Lied als jenes, dessen Grundton ist: Du hast uns Gott erkauft mit deinem Blut (Offenbarung 5:9).
3. Und die er aus den Ländern zusammengebracht hat vom Aufgang, vom Niedergang, von Mitternacht und vom Meer. Auf die Befreiung folgt die Vereinigung. Jene Gefangenen wurden von allen Weltgegenden in ihr Land wieder zurückgebracht, sogar von jenseits des Meeres kamen sie heim. Was immer sie trennen mag, der HERR wird die Seinen zu einem Leibe sammeln. Schon auf Erden sollen sie, durch einen Herrn, einen Glauben, eine Taufe (Epheser 4:5) verbunden, als das einige Volk des einigen Gottes erkannt werden, und im Himmel wird die eine allen gemeinsame Wonne sie vollends zusammenschmelzen zu einer seligen Gemeine. Was für ein herrlicher Hirte muss das sein, der also seine bluterkaufte Herde aus den fernsten Fernen zusammenbringt, sie durch unzählige Gefahren hindurchführt und sie endlich sich lagern lässt auf den grünen Auen des himmlischen Paradieses. Die einen sind in dieser, die andern in jener Richtung irre gegangen, alle haben Immanuels Land verlassen und sich, soweit sie nur konnten, verlaufen; wahrlich, groß ist die Gnade und groß die Macht, welche sie alle zu Einer Herde sammelt unter dem Einen Hirten, Christus. So mögen denn die Erlösten einmütig mit Einem Munde den Herrn loben, der alle die zerstreuten Kinder Gottes in eins zusammenbringt. (Johannes 11:52)
4. | Die irre gingen in der Wüste, in ungebahntem Wege, und fanden keine Stadt, da sie wohnen konnten, |
5. | hungrig und durstig, und ihre Seele verschmachtete; |
6. | und sie zum HERRN riefen in ihrer Not, und er sie errettete aus ihren Ängsten |
7. | und führte sie einen richtigen Weg, dass sie gingen zur Stadt, da sie wohnen konnten; |
8. | die sollen dem HERRN danken um seine Güte und um seine Wunder, die er an den Menschenkindern tut, |
9. | dass er sättigt die durstige Seele und füllt die hungrige Seele mit Gutem. |
4. Die irre gingen in der Wüste. Sie gingen irre, denn ihr Pfad hatte sich verloren, keine Spur eines Weges war mehr zu finden; und was noch schlimmer war: sie irrten in einer Wüste umher, wo ringsum alles glühend heißer Sand war. Sie waren verirrt an dem schlimmsten Orte, der sich nur denken lässt, gerade wie der Mensch, der sich in der Wüstenei der Sünde verloren hat. Sie gingen rechts und gingen links, sie eilten vor und wandten sich wieder zurück in vergeblichem Suchen, ganz wie der Sünder, wenn er erweckt ist und seinen verlorenen Zustand erkennt. Aber es war alles umsonst; denn sie waren und blieben in der Wüste, und all ihre Hoffnung, daraus zu entkommen, zerrann. In ungebahntem Wege, wörtl.: in einer Einöde von einem Wege, d. h. auf einem Wege, der eine weglose Einöde war.
Weit und breit war nirgends eine menschliche Niederlassung, und keine andere Reisekarawane wurde sichtbar, die sie hätten anrufen können. Die Einsamkeit verstärkt das Elendsgefühl in hohem Grade. Die Abgeschiedenheit einer menschenleeren Gegend übt eine äußerst niederschlagende Wirkung aus auf den Unglücklichen, der sich in der endlosen Öde verirrt hat. Der Pfad des Wanderers in der Wildnis ist ein ungebahnter Weg, und wenn er selbst diese dürftige Spur verlässt und ganz in die Einöde kommt, die sonst kein Menschenfuß betritt, so ist er in der Tat in einer tief bedauernswerten, jammervollen Lage. Eine Seele, die niemand hat, der mit ihr fühlt, ist an den Grenzen der Hölle; ein im Vollsinn des Wortes einsamer Weg ist der Weg zur Verzweiflung. Und fanden keine Stadt, da (Menschen wohnten und auch) sie wohnen konnten. Wie wäre das auch möglich gewesen?
Es gab keine. Als Israel durch die Wüste zog, wohnte es in Zelten und genoss keine der Annehmlichkeiten fester Wohnsitze; und in der Sahara würde der Wanderer Stadt oder Dorf vergeblich suchen. Menschenkinder, die in Bekümmernis der Seele sind, finden keine Ruhestatt, keine Erquickung, keine Rast. So mannigfach ihre Versuche sich zu retten auch sind, erschöpfen doch ihre Anstrengungen nur ihre Kraft, alle ihre Wege enden in bitterer Enttäuschung, und die schreckliche Einsamkeit ihrer Herzen erfüllt sie mit unsagbarer Angst und Qual.
5. Hungrig und durstig, und ihre Seele verschmachtete. Die Lebensgeister erlöschen, wenn die Leibeskräfte durch lange Entbehrungen aufgezehrt sind. Wer kann den Mut noch aufrecht halten, wenn der Körper vor gänzlicher Erschöpfung bei jedem Schritt niederzusinken im Begriff ist? Der letzte Bissen Brotes ist verzehrt, das Wasser im Kruge ist aus, und weit und breit ist weder Feld noch Bach in der schaurigen Wüste – da bricht das Herz zusammen in elender Verzweiflung. Das ist der Zustand eines erwachten Gewissens, ehe es den Herrn Jesum kennt. Es ist voll ungestillten Sehnens, voll schmerzlichen Gefühls des Mangels an allem Nötigsten und voll der schlimmsten Befürchtungen. Es fühlt sich gänzlich erschöpft, ohne alle Kraft, und in der ganzen Schöpfung gibt es nichts, das ihm zur Erquickung dienen könnte.
6. Und sie zum HERRN riefen in ihrer Not. Nicht eher, als bis sie in der äußersten Not waren, nahmen sie ihre Zuflucht zum Gebet; aber wie gut, dass sie dann doch beteten, und zwar in der rechten Weise, aus vollem Herzen rufend, schreiend, und zu dem, der allein ihnen helfen konnte: zum HERRN. Es blieb ihnen ja auch nichts anderes übrig; sich selber helfen konnten sie nicht und ebenso wenig bei andern Hilfe finden: da schrien sie zu Gott. Gebete, die uns durch den Drang der Not ausgepresst werden, sind darum nicht weniger annehmbar bei Gott, haben im Gegenteil umso mehr Macht bei ihm, da sie offenbar aufrichtig sind und kräftig das göttliche Mitleid anrufen.
Manche Menschen werden nie zum Beten ihre Zuflucht nehmen, es sei denn, dass sie halb am Sterben sind, und es dient darum viel mehr zu ihrem wahren Vorteil, dass sie hungrig und schwach seien als satt und voll Kraftgefühls. Wenn der Hunger uns auf die Knie bringt, ist er uns nützlicher als festliches Wohlleben; wenn der Durst uns zu der Lebensquelle treibt, ist er uns heilsamer als die tiefsten Züge aus dem unreinen Schöpfbrunnen der Weltlust; und wenn das Verschmachten uns dazu bringt, dass wir zu Gott schreien, so ist es besser als die Kraft der Starken.
Und er sie errettete aus ihren Ängsten. Errettung folgt dem Flehen ganz sicherlich. Ihr Rufen muss sehr schwach gewesen sein, waren sie doch am Verschmachten, und ihr Glaube war gewiss so schwach wie ihr Rufen; dennoch wurden sie erhört, und zwar alsbald. Ein kleiner Verzug würde ihr Tod gewesen sein; aber es trat auch nicht der geringste Aufschub ein, denn der HERR war ganz bereit, ihnen zu helfen. Es macht dem HERRN Freude, gerade dann rettend einzugreifen, wenn niemand sonst vom geringsten Nutzen mehr sein kann.
Der Fall war hoffnungslos, bis Jehovah eingriff – aber da ward augenblicklich alles anders. Diese Menschenkinder waren ganz von Drangsalen umschlossen, aufs äußerste in die Enge getrieben und schon fast zu Tode gedrückt; aber Befreiung kam ihnen alsbald, da sie wieder anfingen, ihres Gottes zu gedenken und betend zu ihm um Hilfe aufzuschauen. Wer nicht einmal um Brot bitten will, verdient es Hungers zu sterben; und wer, obwohl er sich in wegloser Öde verirrt hat, nicht die Hilfe eines Führers anrufen will, kann nicht auf Mitleid Anspruch machen, selbst wenn er in der Wildnis umkommt und mit seinem Fleische den Geiern Atzung bietet.
7. Und führte sie einen richtigen Weg. Es gibt der falschen Wege viele, aber nur einen richtigen Weg, und auf diesen kann uns niemand anders als Gott selbst bringen. Wenn der HERR unser Führer ist, dann ist der Weg sicher der rechte; das brauchen wir niemals in Frage zu stellen. Er führte die Verlorenen heraus aus dem pfadlosen Labyrinth der Wüste; er fand den Weg, bahnte den Weg und befähigte sie ihn zu gehen, so schwach und hungrig sie waren. Dass sie gingen zur Stadt, da sie wohnen konnten. Das Ziel war des Weges wert; er führte sie nicht aus einer Wüste in eine andere, sondern verschaffte den Wanderern ein Obdach, den Müden einen Ort der Ruhe. Sie hatten keine Stadt zum Wohnen gefunden; er fand eine schnell genug. Was wir tun können, und was Gott zu tun vermag, das sind zwei Dinge, verschiedener als Himmel und Erde. Welche Veränderung war das für sie, ihre Einsamkeit mit einer Stadt zu vertauschen, den ungebahnten, von keinem Menschenfuß betretenen Weg mit belebten Straßen, und das Verschmachten ihres Herzens mit den Erquickungen eines trauten Heims! Noch viel größer sind die Umwandlungen, welche die göttliche Liebe in dem Zustand der Sünder bewirkt, wenn Gott ihre Gebete erhört und sie zu Jesu bringt. Sollen wir den HERRN für solch außerordentliche Gnadenerweisungen nicht preisen? Können wir, die wir sie selbst erfahren haben, in undankbarem Schweigen verharren?
8. Die sollen dem HERRN danken um seine Güte. Das ist die erste Pflicht der Erlösten. Die Engel, die Vögelein, Sonne, Mond und Sterne preisen den HERRN; wieviel mehr werden die es tun, die eine so große selbsterlebte Errettung frisch im Gedächtnis haben! Das müssten Ungeheuer von Undankbarkeit sein, die einen solchen Retter für eine so gnädige Befreiung vom grausamsten Tode nicht ehrten. Es ist aber gut, dass die Erlösten dazu aufgemuntert werden, dem HERRN immer wieder von neuem zu danken; denn Erhaltung des Lebens verdient lebenslange Dankbarkeit. Auch diejenigen, welche nicht die gleiche Gefahr durchgemacht und die gleiche Errettung erfahren haben, sollten den HERRN preisen in herzlichem Mitgefühl mit ihren Genossen, deren Freude teilend. Und um seine Wunder, die er an den Menschenkindern tut.
Diese erstaunlichen Gnadentaten sind unserem Geschlecht erwiesen, Gliedern der Familie, zu welcher wir gehören; darum sollen wir in den Dank mit einstimmen. Die Menschenkinder sind so unbedeutende, schwache und unwürdige Geschöpfe, dass es schon als ein Wunder anzusehen ist, wenn der HERR überhaupt irgendetwas für sie tut; er aber lässt sich nicht an kleinen Taten genügen, sondern bietet die Fülle seiner Weisheit, Macht und Liebe auf, um Wunder zu wirken zum Besten derer, die ihn suchen. In dem Leben eines jeden der Erlösten ist eine ganze Welt der Wunder, darum sollte auch aus einem jeden Leben der Lobpreis in mächtigen Akkorden widerhallen.
Was die Wunder der Gnade anbetrifft, welche der HERR für seine Gemeinde im Ganzen gewirkt hat, so hört da jede Schätzung auf; sie sind hoch über alle unsere Gedanken erhaben wie der Himmel über der Erde. Wann wird der Tag anbrechen, da das so hoch begnadigte Menschengeschlecht in dem Maße sich dem Lobe Gottes widmen wird, wie es durch die Huld Gottes vor den anderen Kreaturen bevorzugt ist?
9. Dass er sättigt die durstige Seele. Dieser letzte Vers des Abschnittes führt uns noch einmal in kurzen Worten die herrliche Wandlung vor Augen, die der verirrte Wanderer erlebt hat. Wer im buchstäblichen Sinne vom Untergang in der Wüste errettet worden ist, der danke dem HERRN, der ihn wieder unter den Menschen Brot essen lässt. Der geistliche Sinn ist jedoch noch lehrreicher. Erst erweckt der HERR in uns ein Dürsten und Sehnen, um es dann völlig zu stillen.
Dieses geistliche Dürsten führt uns in die Einsamkeit und Abgeschiedenheit, in ein brennendes Verlangen, in Verschmachten und völliges Verzagen an uns selbst; alles dies aber führt uns wiederum zu Flehen, Glauben, Erfahrung der göttlichen Leitung, Sättigung des Seelendurstes und Ruhe: die gnädige Hand des HERRN wird sichtbar in dem ganzen Vorgang und in dem herrlichen Ende. Und füllt die hungrige Seele mit Gutem. Wie er den Durst dem Erquicktsein weichen lässt, so den Hunger der vollen Genüge.
In beiden Fällen wird das Bedürfnis mehr als befriedigt; die Fülle, mit der die Versorgung geschieht, ist der Beachtung wert. Der HERR tut nichts in einer knickerigen Weise; sättigen und füllen, das ist stets die Art, wie er seine Gäste bewirtet. Wer beim HERRN in die Kost kommt, der braucht sich nie über spärlichen Tisch zu beklagen. Auch füllt der HERR die Hungrigen nicht mit gemeiner Speise, sondern mit Gutem, das Wort im vollsten, höchsten Sinn genommen. Sollten Leute, die aus so tiefem Mangel heraus so fürstlich bewirtet und versorgt werden, dennoch für all die Gaben der Liebe keinen Dank erstatten? Das darf nicht sein. Nein, und auch wir wollen jetzt mit der ganzen Gemeinde der Erlösten danksagen und bitten, dass die Zeit bald herbeikomme, wo alle Welt der Herrlichkeit des HERRN voll werden wird.
10. | Die da sitzen mussten in der Finsternis und Dunkel, gefangen in Zwang und Eisen; |
11. | darum dass sie Gottes Geboten ungehorsam gewesen waren und das Gesetz des Höchsten geschändet hatten; |
12. | darum musste ihr Herz mit Unglück geplagt werden, dass sie da lagen und ihnen niemand half; |
13. | und sie zum HERRN riefen in ihrer Not, und er ihnen half aus ihren Ängsten |
14. | und sie aus der Finsternis und Dunkel führte, und ihre Bande zerriss: |
15. | die sollen dem HERRN danken um seine Güte und um seine Wunder, die er an den Menschenkindern tut, |
16. | dass er zerbricht eherne Türen und zerschlägt eiserne Riegel. |
10. Die da sitzen mussten in der Finsternis und Dunkel. Die Kerkerzelle ist schon an sich dunkel, und die Furcht vor der Hinrichtung verbreitet noch dichtere Düsternis über das Gefängnis. So groß ist die Grausamkeit des Menschen gegen seinesgleichen, dass Zehntausende an Orten haben schmachten müssen, die nur zu Grüften geeignet wären; in ungesunden, zum Ersticken engen, schmutzigen Höhlen, wo sie elend dahingesiecht und an gebrochenem Herzen gestorben sind. Doch war die Furcht vor dem plötzlichen Tode der schrecklichste Teil der Strafe; es war den Gefangenen, als ob der schaurig kalte Schatten des Todes selbst sie bis ins Mark hinein erstarren machte.
Der Zustand einer Seele, die unter der Überzeugung der Sünde schmachtet, wird durch eine solche Lage treffend versinnbildlicht. Menschenkinder, die in dieser inneren Verfassung sind, können die Verheißungen nicht sehen, die ihnen Trost gewähren würden; sie sitzen brütend da in der Untätigkeit der Verzweiflung, sie fürchten das Herannahen des Gerichts und werden dadurch in solche Angst versetzt, als ob sie bereits an den Toren des Todes wären. Gefangen im Elend und Eisen (Luther 1524).
Viele Gefangene sind so zwiefach gefesselt gewesen an Herz und Hand. Oder die Worte mögen sagen wollen, entweder dass der Druck des Elends wie eiserne Fesseln auf ihnen lastete, oder dass die eisernen Bande sie auch innerlich elend machten. Diese Dinge kennt eigentlich nur, wer selber etwas davon erlebt hat; wir würden unsre Freiheit mehr schätzen, wenn wir aus tatsächlicher Erfahrung wüssten, was Handschellen und Ketten bedeuten. Im geistlichen Leben kommt Trübsal ebenfalls oft in Begleitung von Sündenerkenntnis, und dann verursacht der zwiefache Kummer auch zwiefache Gebundenheit. In solcher Lage dringt das Eisen in die Seele, die armen Gefangenen können sich nicht rühren wegen ihrer Ketten, können sich nicht zum Hoffen erheben wegen ihres Kummers und haben keine Kraft infolge ihrer Verzagtheit. Herzeleid ist der Gefährte aller derer, die mit inneren Banden gefesselt und gefangen sind und nicht herauskönnen. O ihr, die ihr durch Christum frei gemacht seid, gedenkt der Gebundenen!
11. Darum dass sie Gottes Geboten ungehorsam gewesen waren. Das war die gewöhnliche Ursache der Knechtschaft bei dem alten Volke Gottes: sie wurden ihren Feinden preisgegeben, weil sie dem HERRN nicht treu gewesen waren. Mit Gottes Worten ist nicht zu spaßen, und wer es wagt, sich wider sie aufzulehnen, der wird sich selbst in Gefangenschaft und Elend bringen. Und den Ratschluss des Höchsten verachtet hatten. (Grundtext) Sie meinten es besser zu wissen als der Richter aller Welt und verließen darum seine Wege und wandelten ihre eigenen. Wenn Menschen dem göttlichen Rat nicht folgen, so geben sie damit den Tatbeweis, dass sie ihn verachten. Wer durch Gottes Gebot nicht gebunden sein will, wird sich in kurzem mit Fesseln des Gerichts gebunden sehen. Ach dass selbst unter Christen Gottes Rat so vielfach geringgeschätzt wird! Darum kennen auch so wenige unter ihnen die Freiheit, damit Christus uns befreit hat.
12. Und er demütigte ihr Herz durch Mühsal. (Wörtl.) In den morgenländischen Gefängnissen zwingt man die Leute oft, wie Tiere zu arbeiten. Wie sie keine Freiheit haben, so auch keine Ruhe noch Rast. Das beugt in kurzer Zeit auch das stolzeste Herz; der eingebildetste Prahler singt da bald eine andere Melodie. Ungemach und harte Arbeit vermögen selbst einen Löwen zahm zu machen. Gott ist nicht um Mittel verlegen, die hohen Augen der Empörer zu erniedrigen; Kerker und Tretmühle bringen selbst Riesen zum Zittern. Sie sanken hin, und niemand half. (Wörtl.) Sie stolperten im Finstern vorwärts unter ihrer schweren Last, bis sie endlich mit dem Angesicht auf der Erde lagen, völlig hilflos; und niemand kam, ihnen Mitleid zu zeigen oder ihnen wieder aufzuhelfen.
Mochten sie nach dem heftigen Sturz mit gebrochenen Gliedern daliegen – keiner kümmerte sich um sie. Ihr Elend blieb ungesehen, oder wenn auch jemand es beachtete, so konnte doch niemand zwischen ihnen und ihren tyrannischen Herren ins Mittel treten. In solch jammervoller Drangsal wurde der halsstarrige Israelit gebeugten Sinnes und bekam andere Gedanken über seinen Gott sowie über seine eigenen Verfehlungen gegen ihn. Wenn ein Menschenkind die bittere Erfahrung macht, dass alle seine Anstrengungen, sich selber zu helfen, fehlschlagen, und sich völlig ohnmächtig fühlt, dann ist der HERR an der Arbeit, ihn vom Stolze zu befreien und den Elenden zum Empfang der Gnade zuzubereiten.
Der hier bildlich beschriebene Seelenzustand ist hoffnungslos und bietet daher umso besseren Spielraum für das göttliche Eingreifen. Manche von uns erinnern sich gar wohl, wie hell die Gnade in unser Gefängnis hineinstrahlte und welche Musik die Ketten machten, indem sie von unseren Händen fielen. Nichts hätte uns befreien können als die Liebe des HERRN; ohne sie wäre uns nichts übrig geblieben, als elend zu Grunde zu gehen.
13. Und sie zum HERRN riefen in ihrer Not. Erst dann! Solange unten noch irgendeine Hilfe zu hoffen war, schauten sie nicht empor. Kein Ruf des Flehens kam aus ihrem Munde, bis ihre Herzen durch Mühsal gebeugt waren und ihre Hoffnungen alle tot waren – da schrien sie zu Gott. Gar mancher Mensch lässt es lange Jahre hindurch, da es ihm wohlgeht und er eine gute Meinung von sich hat, am Darbringen dessen, was er Gebet nennt, nicht fehlen, während in Wahrheit der erste echte Ruf zu Gott ihm vielleicht erst durch das Gefühl äußerster Ratlosigkeit und jammervollen Elends ausgepresst wird.
Wir beten am besten, wenn wir in peinlicher Hilflosigkeit auf unser Angesicht gefallen sind. Und er ihnen half aus ihren Ängsten. Eilends und willig sandte er ihnen Befreiung. Bei ihnen hatte es lange gebraucht, bis sie zum HERRN riefen; er aber war nicht langsam mit seiner Hilfe. Sie hatten erst überall sonst angeklopft, ehe sie zu ihm kamen; aber als sie sich an ihn wandten, fanden sie alsbald freundliche Aufnahme. Er, der sich jenen andern in der endlosen Wüste als der Helfer erwies, kann auch aus dem engen Gefängnis retten; Schloss und Riegel können ihn nicht ausschließen und werden auch seine Erlösten nicht lange einschließen.
14. Und sie aus der Finsternis und (dichtem) Dunkel führte. Der HERR holt durch das Walten seiner Vorsehung Gefangene aus ihren Zellen und lässt sie wieder die köstliche frische Luft einatmen, nimmt ihnen dann die Fesseln ab und gibt ihren schmerzenden Gliedern die ersehnte Freiheit. Ebenso befreit er Menschenkinder auch aus Sorge und Not und namentlich aus dem Elend und der Knechtschaft der Sünde. Dies tut er mit eigener Hand; durch die Erfahrung aller Gläubigen wird es bestätigt, dass es aus dieser Kerkerhaft keine Befreiung gibt außer durch den Richter selbst. Und ihre Bande zerriss. Mit Gewalt befreite er sie, und so, dass sie nicht wieder gefesselt werden konnten, denn er brach ihre Ketten in Stücke. Die Befreiungen, welche der HERR wirkt, sind von der vollkommensten Art und erweisen ihn als herrlichen Sieger; er lässt die Seele weder in Finsternis noch in Banden, und nimmer erlaubt er es den Mächten der Bosheit, den befreiten Gefangenen wieder zu unterjochen. Was er tut, ist für immer getan. Preis sei seinem Namen.
15. Die sollen dem HERRN danken um seine Güte und um seine Wunder, die er an den Menschenkindern tut. Der Anblick solcher Güte bewirkt in dem rechtlich Gesinnten das Sehnen, den HERRN für seine erstaunliche Barmherzigkeit gebührend geehrt zu sehen. Wer kann, wenn Kerkertüren aufspringen und Ketten zerbrochen werden, sich noch weigern, die erhabene Güte des HERRN anzubeten? Es macht einem Herzweh zu denken, dass solch gnadenreiche Wohltaten unbesungen bleiben könnten; es lässt uns keine Ruhe, wir müssen in die Menschen dringen, dass sie ihrer Verpflichtungen gedenken und den HERRN, ihren Gott, preisen.
16. Dass er zerbricht eherne Türen und zerschlägt eiserne Riegel. Dieser Vers gehört zu den vorhergehenden und fasst, was die Gefangenen an Gnaden erfahren haben, zusammen. Der HERR zerbricht die stärksten Türen und Riegel, wenn die Stunde gekommen ist, die gefangenen Seinen zu befreien; und im bildlichen Sinn hat der Herr Jesus die allgewaltigsten geistlichen Bande zerbrochen und uns wahrhaft frei gemacht. Erz und Eisen sind wie Werg vor der Flamme der Liebe Jesu. Die Pforten der Hölle sollen uns nicht überwältigen und die Riegel des Grabes uns einst nicht zurückhalten. Alle die unter uns, welche des HERRN erlösende Kraft erfahren haben, müssen und werden den HERRN preisen um der Wunder der Gnade willen, die er uns zugute vollbracht hat.
17. | Die Narren, so geplagt waren um ihrer Übertretung willen und um ihrer Sünden willen, |
18. | dass ihnen ekelte vor aller Speise, und wurden todkrank; |
19. | und sie zum HERRN riefen in ihrer Not, und er ihnen half aus ihren Ängsten; |
20. | er sandte sein Wort und machte sie gesund und errettete sie, dass sie nicht starben: |
21. | die sollen dem HERRN danken um seine Güte und um seine Wunder, die er an den Menschenkindern tut, |
22. | und Dank opfern und erzählen seine Werke mit Freuden. |
17. Die Narren, so geplagt waren um ihrer Übertretung willen und um ihrer Sünden willen. Viele Krankheiten sind die unmittelbare Folge törichter Handlungsweise. Unsinnig in den Tag hineinlebende, den Lüsten ergebene Menschen erfüllen durch Trunkenheit, Unmäßigkeit oder die Befriedigung anderer Leidenschaften ihren Körper mit Krankheitsstoffen der schlimmsten Art. Die Sünde liegt schließlich allen Trübsalen und Leiden zu Grunde, aber manche Leiden sind die unmittelbaren Ergebnisse der Gottlosigkeit; die Menschen bringen sich durch ihre sündigen Wege selbst ins Unglück und sollten an ihren Schmerzen ihrer Torheit innewerden.
Aber das Schlimmste ist, dass sie auch im Leiden Toren bleiben; und wenn man sie im Mörser zerstieße mit dem Stößel wie Grütze, so ließe doch ihre Narrheit nicht von ihnen. (Sprüche 27:22) Von einer Übertretung schreiten sie zu vielen Verschuldungen fort, und selbst während sie sich unter der Zuchtrute in Schmerzen winden, häufen sie Sünde auf Sünde. Ach, dass selbst solche, die dem Volke Gottes angehören, manchmal in so trauriger Weise den Narren spielen.
18. Dass ihnen ekelte vor aller Speise. Wenn die Leute krank sind, verlieren sie die Esslust; selbst die beste Speise wird ihnen widerlich, ihr Magen lehnt sich dagegen auf. Und wurden todkrank, wörtl.: waren schon nahe an den Toren des Todes. Aus Mangel an Nahrung und durch die zerstörende Macht der Krankheit gleiten sie allmählich immer tiefer hinab, bis sie an des Grabes Tür liegen, und alle Geschicklichkeit des Arztes reicht nicht hin, den Niedergang aufzuhalten. Weil sie keine Speise zu sich nehmen können, empfängt ihr Körper keine Stärkung, und da die Krankheit in ihnen wütet, ist der Rest von Kraft bald durch Schmerz und Kummer aufgezehrt. Ganz ähnlich ergeht es den Seelen, welche unter der Empfindung der Sünde leiden. Sie vermögen selbst in den köstlichsten Verheißungen keinen Trost zu finden, sondern wenden sich mit Widerwillen sogar von dem süßen Evangelium ab, sodass ihre geistige Kraft immer rascher verfällt und sie dem Grabe der Verzweiflung näher und näher sinken. Aber siehe da die Gnade: ob sie auch an den Toren des Todes sind, ins Grab sinken sie nicht.
19. Und sie zum HERRN riefen in ihrer Not. In letzter Stunde schließen sie sich der Heerschar der Beter an. Auch Saul ist unter den Propheten! Der Narr vertauscht, da ihm das Sterbekleid winkt, sein Harlekinsgewand mit dem Armsünderhemde und begibt sich auf die Knie. Zu welch einer Wunderkur für die Seele wird leibliche Krankheit oft durch des HERRN Gnade! Und er ihnen half aus ihren Ängsten. Das Gebet ist auf dem Siechbette so wirksam wie in der Wüste und im Kerker; an allen Orten und unter allen Umständen kann man es mit sicherem Erfolg erproben. Auch in Betreff unserer körperlichen Schmerzen und Gebrechen dürfen wir zu Gott beten und von ihm Antwort erwarten. Wenn die Krankheit alles Begehren nach Speise in uns ausgelöscht hat, so kann doch ein wahrer Hunger nach Gebetsumgang mit Gott in uns entbrennen. Und wer so schwach und krank an Leib oder Seele ist, dass er sich an Gottes Wort nicht mehr nähren kann, der mag sich doch noch an Gott unmittelbar wenden und bei ihm Gnade finden.
20. Er sandte sein Wort und machte sie gesund. Niemand wird durch Arznei allein geheilt, sondern durch das Wort, das aus dem Mund des HERRN geht (5. Mose 8:3), wird der Mensch vom Versinken ins Grab gerettet. Ein Wort genügt, Ein Wort hat es tausendmal vollbracht. Und errettete sie, dass sie nicht starben, wörtl.: und ließ sie aus ihren (Fall-) Gruben entrinnen. So tief sie in Leiden versunken, in so mancherlei tödlichen Gefahren sie gefangen sind, sie entkommen dennoch. Das Wort des HERRN hat eine mächtig befreiende Kraft; er braucht nur zu sprechen, so weichen alle Hindernisse und fliehen in einem Augenblick die Heerscharen des Todes. Sündenkranke Seelen sollten dieser Macht des Wortes gedenken und es oft und viel hören und sinnend zu Herzen nehmen.
In geistlicher Deutung beschreiben diese Verse in der Tat treffend eine sündenmüde, sündenkranke Seele. So sehr sie sich damit noch als töricht erweist, sie weigert sich doch, zum Bewusstsein der Schuld erwacht, alles und jedes Trostes, auch dessen aus der rechten Quelle, und starre Stumpfheit der Verzweiflung lähmt sie. Sie sieht nichts als ringsum gänzliches Verderben in den mannigfachsten Gestalten; des Todes Tore stehen weit geöffnet vor ihr, und eben dorthin fühlt sie mit Gewalt sich hingerissen. Da wird die Seele dazu getrieben, in ihrem bitteren Kummer zu dem HERRN zu schreien, und Christus, das ewige Wort, kommt mit seiner heilenden Kraft in der äußersten Not und rettet sie aufs völligste.
21. Die sollen dem HERRN danken um seine Güte und um seine Wunder, die er an den Menschenkindern tut. Es ist erstaunlich, dass Menschen von schwerer Krankheit wiederhergestellt werden und sich dennoch weigern können, dem HERRN zu danken. Es scheint unmöglich, dass sie solch große Wohltat sollten vergessen können; wir würden vielmehr erwarten, dass sowohl sie selbst als auch ihre Freunde, denen sie wiedergeschenkt sind, sich zu lebenslangem Dank vereinigten. Doch wenn zehn geheilt werden, kehrt selten mehr als einer zurück, um Gott zu preisen. Noch immer erklingt die wehmütige Frage: Wo sind aber die neune? Wenn der große Arzt eine seiner herrlichen geistlichen Kuren vollbracht hat, ist dankerfülltes Lob eines der sichersten Zeichen der erneuerten Gesundheit. Ein Gemüt, das von der Krankheit der Sünde und der Pein des Schuldbewusstseins erlöst ist, muss und wird den Wunderarzt anbetend preisen; doch wäre es gut, wenn solchen Lobes noch tausendmal mehr wäre.
22. Und Dank (-Opfer) opfern. Bei solchem Anlass geziemen sich Gaben und Opfer neben den Worten des Herzens. Lasset dem liebreichen Arzt den Ehrenlohn der Dankbarkeit zuteilwerden. Möge das ganze Leben fernerhin ihm geweiht sein, der es verlängert hat, möge die Tat selbstverleugnender Dankbarkeit fort und fort wiederholt werden: es erfordert viele freudige Opfer, soll jene wunderbare Wohltat gebührend gefeiert werden. Und erzählen seine Werke mit Freuden, wörtl.: mit Jubel. Solche Erfahrungen sind des Erzählens wert, denn dies persönliche Bezeugen des Erlebten ehrt Gott, fördert uns selbst, tröstet andere und stellt allen Menschen Tatsachen betreffend die göttliche Güte vor Augen, deren Eindruck sie sich nicht werden entziehen können.
23. | Die mit Schiffen auf dem Meer fuhren und trieben ihren Handel in großen Wassern; |
24. | die des HERRN Werke erfahren haben und seine Wunder im Meer, |
25. | wenn er sprach und einen Sturmwind erregte, der die Wellen erhob, |
26. | und sie gen Himmel fuhren und in den Abgrund fuhren, dass ihre Seele vor Angst verzagte, |
27. | dass sie taumelten und wankten wie ein Trunkener und wussten keinen Rat mehr; |
28. | und sie zum HERRN schrien in ihrer Not, und er sie aus ihren Ängsten führte |
29. | und stillte das Ungewitter, dass die Wellen sich legten, |
30. | und sie froh wurden, dass es stille worden war, und er sie zu Lande brachte nach ihrem Wunsch: |
31. | die sollen dem HERRN danken um seine Güte und um seine Wunder, die er an den Menschenkindern tut, |
32. | und ihn bei der Gemeinde preisen und bei den Alten rühmen. |
23. Die mit Schiffen auf dem Meer fuhren. Große Meerfahrten waren bei den Israeliten so wenig üblich, dass die Seeleute mit einem reichen Zauber von Geheimnissen umgeben erschienen und man zu ihrem Handwerk als einem von ganz besonderer Kühnheit und Gefährlichkeit empor sah. Geschichten von Seereisen erfüllten alle Gemüter mit Schauern, und wer nach Ophir oder Tarsis gewesen und lebendig zurückgekehrt war, wurde als ein berühmter Mann angestaunt, als ein alter, wettererfahrener Seemann, dem man mit ehrerbietiger Aufmerksamkeit lauschen müsse.
Man betrachtete das Hinausfahren aufs Meer als ein Hinabsteigen in einen Abgrund, wie es hier wörtlich heißt: die sich mit Schiffen aufs Meer hinabbegaben, während unsere jetzigen mehr des Meeres gewohnten Schiffer von der hohen See sprechen. Und trieben ihren Handel in großen Wassern. Hätte das Geschäft sie nicht dazu getrieben, so würden sie sich niemals auf den Ozean gewagt haben; denn wir lesen in der Schrift nie von jemand, der sich zum Vergnügen aufs Meer begeben hätte. Das Gemüt des Israeliten war dem Seefahren so abgeneigt, dass wir nicht einmal von Salomo hören, er habe sich eine Lustjacht gehalten. Das Mittelländische Meer war für David und seine Landsleute das Große Meer, und sie schauten zu solchen, die darauf Handel trieben, mit einem nicht geringen Maße von Bewunderung auf.
24. Die des HERRN Werke erfahren (wörtl.: geschaut) haben. Ganz anders als die Landbewohner sehen sie die großartigsten Werke Gottes, oder doch wenigstens solche, welche Leute, die immer daheim geblieben sind, so beurteilen, wenn sie davon erzählen hören. Statt dass das Weltmeer sich als eine von Wasser erfüllte Einöde erweist, ist es vielmehr voll von Geschöpfen des Allmächtigen, und wenn wir es wie Jona versuchen wollten, seiner Gegenwart zu entrinnen, indem wir an das äußerste Meer entflöhen, so würden wir nur Jahovah dem Ewigen in die Arme laufen und uns so recht mitten in seiner Werkstatt finden. Und seine Wunder im Meer. In oder auf der strudelnden Tiefe sehen sie Wunder.
Das wogende Meer ist an sich schon ein Wunder und wimmelt von Wundern. Weil sich den Seeleuten viel weniger Gegenstände augenfällig darbieten, so wird bei ihnen die Beobachtungsgabe weit mehr geschärft als bei den Bewohnern des Festlandes; deshalb wird von ihnen hier mit Nachdruck gesagt, dass sie die Wunder der Tiefe sehen. Zugleich enthält aber der Ozean auch in der Tat viele besonders merkwürdige Geschöpfe Gottes und ist er der Schauplatz so mancher ungemein schauerlichen Naturereignisse, durch welche sich die Macht und Majestät des HERRN unter den Menschen offenbaren. Die vornehmsten Wunder, welche der Psalmist nun vor Augen führt, sind ein plötzlicher Sturm und die darauf folgende Stille.
Nicht alle Gläubigen haben die gleiche tiefe Erfahrung; aber zu weisen Zwecken, damit sie für ihn gewinnreichen Handel treiben, schickt der HERR etliche seiner Heiligen auf das tiefe Meer der Seelenleiden, und dort schauen sie, wie andere es nicht vermögen, die Wunder der göttlichen Gnade. Indem sie die Tiefen der Erkenntnis des inneren Verderbens, die Wasserwüste der Armut, die Wogen der Verfolgung und die brandenden Klippen der Anfechtung durchsegeln, kommt ihnen in einzigartiger Weise zum Bewusstsein, dass sie Gott vor allem haben müssen, und sie finden ihn.
25. Wenn er sprach: sein Wort genügt für alles; er hat nur zu wollen, so tobt ein Unwetter. Und einen Sturmwind erregte. Dieser schien vordem zu schlafen; aber er kennt seines Meisters Stimme, auf seinen Befehl erhebt er sich im Nu und mit der ganzen Heftigkeit seiner Gewalt. Der die Wellen erhob. Die glasige Fläche des Meeres wird gebrochen, unzählige weiße Wellenköpfe erscheinen und rollen und werfen sich ungestüm hin und her, je nachdem wie der Wind auf sie stößt. Während sie vorher ganz stille ruhten, erheben sich die Wogen jetzt mit Macht und springen hoch gen Himmel auf, sobald das Heulen des Windes sie aufweckt.
So bedarf es auch nur eines Wortes von Gott, und alsbald befindet sich die Seele in stürmischer See und wird von tausend Anfechtungen hin- und hergeworfen. Zweifel, Befürchtungen, Schrecken, Ängste aller Art erheben ihre Häupter gleich ebenso vielen erbosten Wogen, wenn der HERR es den Sturmwinden einmal erlaubt, über uns hereinzubrechen.
26. Und sie gen Himmel fuhren und in den Abgrund fuhren. Auf dem Rücken der Welle emporgetragen, scheinen die Schiffer mit ihrem Schiffe himmelan klimmen zu wollen; aber nur für einen Augenblick, denn gleich darauf sind sie wieder in dem Hohlraum zwischen zwei Wellen und scheint es, als ob der Abgrund sie verschlänge. Als wäre das mächtige Schiff nur eine Möwe, so werden die Seefahrer auf- und niedergeschaukelt vom tiefen Grunde bis zu der Spitze der Wellen. Dass ihre Seele vor Angst verzagte. Müde, durchnässt, entmutigt, an der Rettung verzagend, zerschmilzt ihnen das Herz gleichsam zu Wasser, und all ihre Mannhaftigkeit scheint sie verlassen zu haben.
Diejenigen von uns, welche sich auf der geistlichen Wogenflut in einem der großen Stürme befunden haben, die zuzeiten die Seele erschüttern, wissen, was dieser Vers bedeutet. In solchen seelischen Wirbelstürmen wechselt Vermessenheit mit Verzweiflung, Gleichgültigkeit mit tiefster Seelenpein. Man hat kein Herz mehr zu irgendetwas, der Mut ist dahin, die Hoffnung fast erstorben. Solche Erlebnisse sind so wirklich wie das Hin- und Hergeschleudertwerden in einem Meeressturme, nur noch weit schrecklicher. Unser etliche haben gar manches solcher seelischen Unwetter ausgehalten und haben da wahrlich des HERRN Wunderwerke gesehen!
27. Dass sie taumelten (wörtlich: sich im Kreis drehten) und wankten wie ein Trunkener. Die heftigen Bewegungen des Schiffes lassen die Menschen sich nicht auf den Füßen halten, und die Angst bringt sie um alle Kraft, ihren Verstand zu gebrauchen, so dass sie Betrunkenen gleichen. Und wussten keinen Rat mehr. Was sollen sie noch tun? Sie haben alle Künste der Schifffahrtskunde angewandt, aber das Schiff wird so bedrängt und umhergeschleudert, dass all ihre Weisheit aus ist und sie nicht wissen, wie sie es flott halten sollen.
Auch hier stimmt das Logbuch des geistlichen Seefahrers mit dem des Schiffers auf dem Meer überein. Wie schrecklich war das Hin- und Herschwanken! Wir konnten keinen festen Fuß mehr fassen, an nichts mehr uns halten. Wir wussten nicht, was zu machen war, und hätten nichts tun können, auch wenn wir gewusst hätten, was zu tun sei. Wir waren wie Menschen, deren Sinne sich verwirrt haben, und befanden uns in einer so schrecklichen Gemütsverfassung, dass unterzugehen uns besser erschienen wäre als dieses schauerliche Hangen und Bangen. Alle unsere Weisheit war zu Ende; wir wussten nur eins: dass es so nicht weiter gehen könne.
28. Und sie zum HERRN schrien in ihrer Not. Wiewohl es mit all ihrer Vernunft aus zu sein schien, waren sie doch noch vernünftig genug zu beten; ihr Herz, das zerschmolzen war, ergoss sich in dringendem Flehen um Hilfe. Das war gut und es endete gut, denn es heißt weiter: und er sie aus ihren Ängsten führte. Was ist doch im Sturme das Beten ein trefflich Ding! Beten können wir, auch wenn wir wanken und schwanken und mit aller unserer Weisheit zu Ende sind. Gott hört uns auch beim Krachen des Donners und wird uns aus dem Wetter antworten (Hiob 38:1). Er war es, der all die Not über die Seeleute gebracht hatte, darum taten sie wohl daran, sich an ihn zu wenden um Hinwegnahme derselben; und sie schauten nicht vergeblich aus.
29. Er stillte den Sturm zum Säuseln. (Grundtext) Er offenbarte seine Macht in der plötzlichen und erstaunlichen Wandlung, die auf sein Geheiß eintrat. Er hatte das Sturmwetter kommen heißen, und jetzt befiehlt er Stille. Gott ist in allen Naturerscheinungen, und wir tun wohl daran, sein Wirken anzuerkennen. Dass die Wellen sich legten. Sie sinken in feierlichem Schweigen zu seinen Füßen nieder. Wo sich eben noch mächtige Wogen auftürmten, da ist kaum noch ein Kräuseln zu sehen. Wenn Gott Stille schafft, dann ist’s wahre Ruhe, ein Friede, der höher ist denn alle Vernunft. Er kann auch den Gemütszustand eines Menschen in einem Augenblick so völlig wandeln, dass es ihm als ein wahres Wunder erscheint, sich so plötzlich aus dem tobenden Sturm in heitere Stille versetzt zu sehen. O dass der HERR solches auch in dem Leser wirke, wenn dessen Herz etwa jetzt gerade, sei es von äußeren Nöten, sei es von inneren Ängsten, wie vom Sturme umhergeschlagen wird. HERR, sprich das Befehlswort, das eine Wort, das nötig ist, so wird alsbald eine große Stille werden. (Markus 4:39.)
30. Und sie froh wurden, dass es stille worden war. Nur wer selbst schon in einem Sturme auf dem Meer gewesen ist, vermag diese Worte ganz nachzufühlen. Nach solchem Erlebnis kann keine Musik lieblicher sein als das Rasseln der Ketten, wenn die Matrosen den Anker niederlassen, und kein Ort erscheint dann begehrenswerter als die kleine Bucht oder der weite Meerbusen, wo das Schiff nun in Frieden ruht. Und er sie zu dem Hafen brachte, dahin sie verlangten. (Grundtext) Je rauher die Fahrt, desto sehnlicher schauen die Seeleute nach dem Hafen aus, und auch uns wird der Himmel immer mehr zum ersehnten Hafen, je mehr unsere Trübsale zunehmen.
Durch Stürme und durch günstige Brisen, durch Ungewitter und heiteren Sonnenschein bringt unser herrlicher Lotse, der Beherrscher des Meeres, die Seefahrer zum Hafen und seine Auserwählten zum Himmel. Ihm gebührt die Ehre für die glückliche Schifffahrt durch das Meer der Zeit, und wenn wir einst im Strom des Lebens droben wohlgeborgen vor Anker liegen, werden wir dafür sorgen, dass sein Ruhm nicht vergessen wird. Längst wären wir ein unbrauchbares Wrack, wenn seine Hand uns nicht bewahrt hätte, und alle unsere Hoffnung, die Stürme der Zukunft zu überstehen, ruht auf seiner Weisheit, Macht und Treue. Wie wird der himmlische Hafen von dankerfüllten Freudenrufen widerhallen, wenn wir einst an seinem paradiesischen Gestade gelandet sind.
31. Die sollen dem HERRN danken um seine Güte und um seine Wunder, die er an den Menschenkindern tut. Lasset das Meer erschallen von Jahovahs Lobpreis um seiner rettenden Gnade willen. Möge der Seefahrer, wenn er seinen Fuß auf die Küste setzt, das feierliche Loblied gen Himmel aufsteigen lassen, und mögen andere, die ihn also aus dem Rachen des Todes errettet sehen, in seinen tiefbewegten Dank mit einstimmen.
32. Und ihn bei der Gemeinde preisen. Die Danksagung für solche Wohltaten sollte öffentlich erstattet werden, dort wo die Menschenkinder zum Gottesdienst zusammenkommen. Und im Rat der Alten (Grundtext) ihn rühmen. Der Lobpreis soll mit großer Feierlichkeit dargebracht werden in der Gegenwart der Männer, die, an Jahren, an Erfahrung und an Einfluss reich, als Häupter des Volkes im Rate sitzen. Vornehmliche Gnadenerweisungen erfordern auch eine vornehme, feierliche Weise des Dankes; darum werde das Opfer dargebracht mit dem gebührenden Wohlanstand und würdevollem Ernst. Oft wenn die Leute davon hören, wie Menschen mit knapper Not dem schrecklichen Schicksal entronnen sind, Schiffbruch zu leiden, gleiten sie mit einer leichtfertigen Bemerkung von gutem Glück und dergleichen über die Sache hinweg; aber man sollte wahrlich mit solchen ernsten Dingen nicht spielen.
Wenn eine Seele in schweren geistlichen Stürmen gewesen ist und endlich Frieden gefunden hat, so wird daraus ganz naturgemäß als heilige Pflicht und seliges Vorrecht das öffentliche Bekenntnis der Gnade des HERRN vor seinem Volke erfolgen, und es ist schicklich und nützlich, dass dies in der Gegenwart derer geschehe, welche in der Gemeinde mit der Würde heiligen Dienstes bekleidet sind und infolge ihrer reiferen Jahre auch besser befähigt sind, ein solches Zeugnis zu würdigen.
33. | Er machte Bäche trocken und ließ Wasserquellen versiegen, |
34. | dass ein fruchtbar Land zur Salzwüste wurde um der Bosheit willen derer, die drinnen wohnten. |
35. | Er machte das Trockne wiederum wasserreich und im dürren Lande Wasserquellen |
36. | und hat die Hungrigen dahin gesetzt, dass sie eine Stadt zurichteten, da sie wohnen konnten |
37. | und Äcker besäen und Weinberge pflanzen möchten und die jährlichen Früchte gewönnen. |
38. | Und er segnete sie, dass sie sich sehr mehrten, und gab ihnen viel Viehes. |
39. | Sie waren niedergedrückt und geschwächt von dem Bösen, das sie gezwungen und gedrungen hatte. |
40. | Er schüttete Verachtung auf die Fürsten und ließ sie irren in der Wüste, da kein Weg ist, |
41. | und schützte den Armen vor Elend und mehrte sein Geschlecht wie eine Herde. |
42. | Solches werden die Frommen sehen und sich freuen; und aller Bosheit wird das Maul gestopft werden. |
33. Er machte Ströme zur Wüste und Quellorte von Gewässern zu dürrem Land. (Wörtl.) Wenn der HERR es mit widersetzlichen Menschen zu tun hat, kann er ihnen leicht die Segnungen entziehen, deren sie sich am sichersten wähnen. Die mächtigen Ströme und immer fließenden Quellen ihres Landes können ihnen, so meinen sie, doch nie genommen werden; aber der HERR vermag ihnen mit einem Worte auch diese zu entziehen. In heißen Ländern trocknen bei lange anhaltender Dürre auch größere Flüsse gänzlich aus, und selbst mächtige Quellen versiegen, und das Gleiche hat sich auch anderwärts ereignet, wenn zum Beispiel etwa große Erschütterungen der Erdoberfläche eintraten.
Im Menschenleben finden diese Naturkatastrophen ihr Gegenstück, wenn der Handel aufhört, Gewinn zu bringen, und Quellen des Reichtums versiegen, wenn uns Gesundheit und Arbeitskraft genommen, unentbehrlich scheinende Hilfe von Freunden entzogen und Verbindungen, die uns den Genuss der Annehmlichkeiten des Lebens gewährten, abgebrochen werden. So kann auf dem geistlichen Gebiet auch das fruchtbarste Amtsleben dürr werden oder doch für uns versiegen, können die genussreichsten Betrachtungen aufhören uns Nutzen zu bringen, und die ehedem gesegnetsten Andachtsübungen der Erquickung leer werden, die sie unserem geistlichen Leben gewährten. Da Gott allein es ist, der Trost, Frieden und Freude in uns schwellen macht oder versiegen lässt, ziemt es uns, mit ehrfurchtsvoller Dankbarkeit vor ihm zu wandeln und so zu leben, dass es für ihn nicht ein Gebot der Notwendigkeit wird, uns mit Entziehung seiner Gnadenmittel zu strafen.
34. Dass ein fruchtbar Land zur Salzwüste wurde. Das ist in nicht wenigen Fällen geschehen, in der allbekanntesten Weise im Lande des Dichters selbst an Sodom und Gomorra. Und ist nicht das ganze Land Israel, das einst ein Kleinod, eine Zierde vor allen Ländern war (Hesekiel 20:6-15), jetzt fast eine Wüste? Um der Bosheit willen derer, die drinnen wohnten. Die Sünde ist die Ursache all des Erdenjammers. Sie machte zuerst den Erdboden unfruchtbar in den Tagen unseres Vaters Adam, und sie breitet heute noch einen giftigen Mehltau über alles, das sie berührt.
Wenn wir des Salzes der Heiligkeit ermangeln, wird uns bald das Salz der Unfruchtbarkeit bedecken. Bringen wir dem HERRN keine Ernte des Gehorsams, so kann er dem Acker verbieten, uns Garben zu nährendem Brot zu geben (vergl. 1. Mose 4:12), und was dann? Wenn wir Gutes in Böses verkehren, können wir uns dann wundern, wenn der HERR uns mit gleichem vergilt und unsere Niederträchtigkeit in unseren Busen zurückkehren lässt?
Manche unfruchtbare Gemeinde und Kirche verdankt ihren gegenwärtigen traurigen Zustand ihrem unverantwortlichen Verhalten, und mehr als nur ein Christ, der jetzt einer öden Wüste gleicht, ist in diesen unglückseligen Zustand dadurch gekommen, dass sein Wandel vor dem allsehenden Auge Gottes nachlässig und ungeheiligt war. O möge doch kein Gläubiger, dessen Leben jetzt nützlich ist, sich der Gefahr aussetzen, die ihm verliehenen Gnadengaben und -vorrechte zu verlieren, sondern möge er wachsam und nüchtern sein, auf dass sein ganzer Lauf gesegnet sei bis zum Ende und er das Ziel erreiche.
35. Er machte das Trockne wiederum wasserreich. Mit einer abermaligen Wendung seiner Hand gibt der HERR völlig, ja überschwenglich wieder, was er im Gericht hinweggenommen. Er tut sein Gnadenwerk in wahrhaft königlicher Art; denn ein tiefer Wassersee ist zu schauen, wo vordem nur eine Sandwüste war. Nicht durch Gesetze der Natur, die durch eine ihnen eingegebene Kraft selbsttätig wirken, wird dies Wunder vollbracht, sondern unmittelbar durch ihn – er macht aus einer Wüste einen Wassersee (Luther 1524). Und im dürren Lande Wasserquellen. Unversiegbarkeit, reiche Fülle und stetige Frische, das alles verbindet sich uns mit dem Bild der Quelle, und solche Wasserquellen werden nun da geschaffen, wo vorher alles dürr war.
Dieses Wunder der Gnade ist das genaue Gegenstück der in den vorhergehenden Versen geschilderten Gerichtstat und wird von ebenderselben Hand bewirkt. Ebenso vollbringt die Barmherzigkeit des HERRN in der Gemeinde wie im einzelnen Gläubigen bald erstaunliche Umwandlungen, wo die wieder zurechtbringende und erneuernde Gnade ihr gesegnetes Werk beginnt. Ach, dass wir diesen Vers überall um uns her und in unseren eigenen Herzen sich erfüllen sehen dürften! Dann würden diese Worte uns als Ausruf dankbaren Erstaunens und als Lied wohlgeziemenden Lobpreises dienen.
36. Und hat die Hungrigen dahin gesetzt, sie daselbst sesshaft gemacht, wo vordem niemand wohnen konnte. Sie werden den Wechsel zu schätzen wissen und Gottes Güte gebührend würdigen. Wie die Dürre des Landes ihr Darben verursacht hatte, so wird die Fruchtbarkeit desselben nunmehr allen Mangel für immer verbannen, und sie werden sich in dem gesegneten Gefilde niederlassen als glückliche und dankbare Menschenkinder, die Gott für jede Handvoll Korn preisen, die ihnen der Acker darreicht. Niemand ist so bereit, Gott für seine reichen Gnaden den schuldigen Zins des Lobpreises zu erstatten, als wer aus Erfahrung weiß, was es heißt, Gottes Segnungen entbehren zu müssen.
Aus hungrigen Seelen quillt süße Musik, wenn der HERR sie mit seinen Gnadengütern sättigt. Gehören wir zu den Hungernden? Oder sind wir zufrieden mit den Träbern dieser armseligen, schmutzigen Welt? Dass sie eine Stadt zurichteten, da sie wohnen konnten. Wenn dem Erdreich die befruchtende Feuchtigkeit zuströmt und menschlicher Fleiß es bebaut, so schießen Dörfer und Städte aus der Erde und wimmeln von Einwohnern; und wenn die Gnade übermächtig wird, wo ehedem die Sünde herrschte, finden Herzen Frieden und wohnen in Gottes Liebe als in einer festen Stadt. Die Gemeinde Gottes wird erbaut, wo einst alles eine Wüste war, wenn der HERR die Ströme des Evangeliums sich dahin ergießen lässt.
37. Und Äcker besäen und Weinberge pflanzen möchten und die jährlichen Früchte gewönnen. Die Menschen wirken, wenn Gott wirkt. Sein Segen lässt den Säemann mutig seine Hoffnungsarbeit tun, ermuntert den Pflanzer bei seinem mühsamen Werk und gibt dem fleißigen Landmann in der Ernte den Lohn. Nicht nur die unumgänglich notwendigen Lebensbedürfnisse, sondern auch liebliche Genüsse, Wein sowohl als Brotkorn, werden dem Menschen zuteil, wenn der Allmächtige dem Himmel gebietet, den Regen zu geben, dass er die Wasserläufe fülle. Göttliche Gnadenheimsuchungen bringen große geistliche Reichtümer, befördern mannigfaltige Werke des Glaubens und Arbeiten der Liebe und lassen gute Frucht jeglicher Art in Fülle erwachsen zu unserer Freude und Gottes Preis. Wenn Gott den Segen sendet, so setzt er damit die menschliche Anstrengung nicht außer Wirksamkeit, sondern ermuntert und entfaltet vielmehr die Kräfte. Paulus pflanzt, Apollos begießt, und Gott gibt das Gedeihen.
38. Und er segnete sie, dass sie sich sehr mehrten, und gab ihnen viel Viehes. Gottes Segen ist’s, der alles schafft. Er macht nicht nur die Menschen glücklich, sondern bringt die Menschen selbst hervor, indem er sie sich mehren lässt auf Erden. Als der HERR das erste Menschenpaar schuf, segnete er sie und sprach zu ihnen: “Seid fruchtbar und mehret euch”, und hier finden wir eine Erneuerung des uranfänglichen Segens. Lasst uns beachten, dass es dem Vieh sowohl als den Menschen gut ergeht, wenn Gott sein Volk gnädig heimsucht; die Tiere nehmen mit den Menschen teil an der Güte oder Strenge des Waltens der göttlichen Vorsehung. Die Herden bleiben von Mangel und Seuchen verschont, wenn Gott einem Volke gnädig ist; verhängt er aber Züchtigungen über die Sünder, so siechen Schafe und Rinder dahin. Ach, dass die Völker in Zeiten des Gedeihens doch die gnädige Hand Gottes anerkennen wollten; denn seinem Segen allein verdanken sie alles.
39. Und sie wurden (dann wieder) wenig und kamen herunter (wurden gebeugt) durch den Druck des Unglücks und Jammers. (Grundtext) Wie sie sich in Gesinnung und Wandel änderten, so wandelten sich auch ihre Umstände. In dem Alten Bunde ließ sich das sehr deutlich beobachten; Aufschwung und Niedergang waren bei Israel die unmittelbaren Folgen von Sünde und Buße. Bibel und Menschenerfahrung haben einen reichen Schatz an Wörtern für die mannigfaltige Trübsal unseres Geschlechts. Gott hat vielerlei Ruten, und wir haben vielerlei Schmerzen; und alles, weil wir viele Sünden haben.
Völker wie christliche Gemeinden nehmen bald ab an Zahl, wenn sie an Gnade bei Gott abnehmen. Ist’s um unsere Liebe zum HERRN schwach bestellt, so braucht es uns nicht zu wundern, wenn er uns auch in anderen Dingen schwach werden lässt. Gott kann das Tempo unserer Wohlfahrt gründlich ändern und uns ein Diminuendo1in der Tonstärke abnehmend; allmählich leiser werdend taktieren, wo wir in mächtigem Crescendo2allmählich lauter werdend, im Ton anschwellend fortzufahren gedachten; darum lasst uns mit großer Sorgfalt vor ihm wandeln, stets dessen eingedenk, wie abhängig wir davon sind, dass er sein Angesicht freundlich über uns leuchten lässt.
40.41. In diesen beiden Versen wird uns gezeigt, wie der HERR nach freiem Belieben das Schicksalsrad dreht. Er zollt des Menschen eingebildeter Hoheit keine Huldigung, sondern immer wieder erfüllt sich, was schon im Buche Hiob (Hiob 12:21-24) gesagt ist: Er schüttete Verachtung auf die tyrannischen Fürsten, stürzte sie von ihrer Höhe herunter, und ließ sie irren in der Wüste, da kein Weg ist, gerade wie sie ihre Gefangenen in unwegsamer Öde umherirren ließen, da sie sie von einem Land ins andere jagten. Und zugleich wird je und je offenkundig, welch zarte Huld der Allmächtige den Armen und Unterdrückten zuwendet. Immer neu ertönt das alte Lied: Er hob den Armen aus dem Elend empor, errettet ihn aus seiner Leidenstiefe und versetzt ihn in angenehme, glückliche Lebensumstände, und mehrte sein Geschlecht wie eine Herde, dass, die vordem einsam trauerten, wie Hiob 21:11 es schildert, gleich einer Lämmerherde ihre Buben auslassen und ihre Kinder froh sich tummeln.
Solche Wandlungen sind auf der Buchrolle der Geschichte wieder und wieder zu sehen, und in der geistlichen Erfahrung bemerken wir das entsprechende Gegenstück: die Selbstzufriedenen werden dazu gebracht, sich selber zu verachten, und schauen sich in der unwegsamen Öde ihrer Natur vergeblich nach Hilfe um, während arme, von ihrer Schuld überzeugte Seelen der Gottesfamilie eingefügt werden und in Sicherheit wohnen als Schafe seiner Herde.
42. Solches werden die Frommen (die Aufrichtigen, Luther 1524) sehen und sich freuen. Gottes Walten ist denen, die in Wahrheit zu seinem Volke gehören, eine Ursache der Freude; sie sehen des HERRN Hand in allem, und es ist ihnen eine Wonne, über die Wege seiner Gerechtigkeit und seiner Gnade nachzusinnen. Und aller Bosheit wird das Maul gestopft werden. Sie muss verstummen. Gottes Walten ist oft so zwingend mit seinen Tatbeweisen, dass kein Widerreden noch Fragen mehr möglich ist. Lange vermag freilich die Unverschämtheit der Gottlosigkeit nicht still zu sein; aber wenn Gottes Gerichte umgehen, muss sie wohl oder übel den Mund halten.
43. | Wer ist weise und behält dies? So werden sie merken, wieviel Wohltaten der HERR erzeigt. |
43. Wer ist weise und behält (beachtet) dies? So werden sie merken, wieviel Wohltaten der HERR erzeigt. Wer auf Gottes Vorsehung Acht haben will, der wird bald genug zu beachten haben. Wir tun gut, zu beobachten, was der HERR tut; denn er ist weise von Rat und mächtig von Tat. Er hat uns Augen gegeben zu sehen, und es ist töricht, sie zu schließen, wo es so viel und so Herrliches zu schauen gibt. Aber unsere Beobachtung muss auch von weiser Art sein; wir können sonst leicht uns selbst und andere verwirren, wenn wir des HERRN Walten nur hastig und oberflächlich betrachten und übereilte Schlüsse ziehen.
Doch gibt sich auf tausend Weisen die Güte des HERRN in den Führungen der Menschenkinder zu erkennen, und wenn wir nur mit klugem Bedacht darauf merken wollen, so werden wir zu immer besserem Verständnis gelangen. Die Wohltaten des HERRN mit geöffnetem Auge und Herzen zu betrachten und von ihnen aus die köstliche göttliche Eigenschaft der Gnade tief zu verstehen, das ist eine ebenso angenehme wie nützliche Kunst; wer es darin weit bringt, dessen Herz und Mund wird von selbst überfließen von den lieblichsten Liedern zu des Höchsten Ehren.
Herkunft: evangeliums.net