Freude auf das Kommende
In der zweiten Bitte: „Dein Reich komme“ ist es das Ziel des ewigen Vaterherzens, das die Bitte bestimmt und gestaltet. Hier eilt die Sehnsucht des Sohnesherzens zum Ziel voran, auf das der Vater selbst zielt, auf die Vollendung des Reiches Gottes. „Errichte das Reich“, wäre auch zu übersetzen. „Hier spricht das Verlangen des Staubes, mit Abraham, Isaak und Jakob zu Tische beim Freudenmahl im Himmelreich zu sitzen, nachdem sämtliche Mächte der Bosheit gefesselt und gebunden und in die äußerste Finsternis hinausgeworfen sind. Die Ehre Gottes und die Seligkeit der Menschen – das ist der Zweiklang in 1. Korinther 15. Da wird vom Sieg und vom sonnigen Reich gesprochen, aber der höchste Gedanke ist: Gott alles in allem.“
So fasst Professor Anton Fridrichsen den Inhalt der ersten und zweiten Bitte des Vaterunser zusammen. „Vater, errichte dein Reich“, so muss man übersetzen, denn Gott allein vermag die Mächte der Bosheit zu fesseln und zu binden und in die äußerste Finsternis hinauszuwerfen, um alles in allem zu werden.
Das große Ziel
In dieser Hoffnung lebte Jesus und diese große Hoffnung hat Jesus verkündigt. Um dieses großen Zieles willen hat er den Widerspruch von allen Seiten, das Leiden und den Tod erduldet. In derselben Weise macht das Widersprechen, das Leiden und die Todesgefahr diese Bitte im Sohnesherzen jedes Christenmenschen lebendig. Nicht als Ausdruck der Neigung zur Fahnenflucht, sondern als Ausdruck für das Sehnen des Staubes, die bösen Tage verkürzt zu sehen. Denn auch diese Bitte: Vater, errichte dein Reich ist eine echte Bitte. Es ist in dieser Bitte ein Zittern, dass kein Mensch die Kosten der bösen Tage sonst durchhalten würde. Es ist aber auch in dieser Bitte eine Vorfreude. Sie hat ja die Zusage Jesu, dass sie bei Gott erhört wird. Wenn diese Gewissheit gestärkt wird, wird die Geduld wachsen. Nicht umsonst nennt der Apostel Paulus den Vater Gott der Geduld und des Trostes (Römer 15:5). Wir können daher diese Bitte „die Bitte der Geduld“ nennen, oder vielleicht noch besser: „die Bitte der Vorfreude“, das heißt: des Trostes.
Die Geduld und die Vorfreude sind die ersten Anzeichen, dass das Reich Gottes nahegekommen ist. Gewiss ist das Ziel des Vaters damit noch nicht erreicht. In Dietrich Bonhoeffers Briefen aus dem Gefängnis findet sich folgende Stelle: Das Reich Gottes ist „ein Reich, stärker als der Krieg und die Gefahr, ein Reich der Macht und Gewalt, nicht ein Reich des Herzens, sondern über die Erde und alle Welt, nicht vergänglich, sondern ewig, ein Reich, das sich seinen Weg schafft und sich Menschen ruft, die ihm den Weg bereiten, ein Reich, für das sich der Einsatz des Lebens lohnt.“ (Widerstand und Ergebung, Berlin-Tegel, 21.5.1944)
Haben wir uns unter „Reich Gottes“ etwas ähnliches vorgestellt wie Bonhoeffer es beschreibt? Wahrscheinlich nicht, denn die Botschaft von einem solchen Reich ist weithin in der Christenheit unbekannt. Was wir landläufig unter der frohen Botschaft, unter „Evangelium“ verstehen, ist bestimmt nicht ein Reich der Macht und Gewalt, sondern gerade das Gegenteil, nämlich ein Reich des Herzens, ein Reich der Innerlichkeit, des inneren Friedens und Seelentrostes. Und freilich ist Frieden und Trost der Seele für uns nötig und in der Frohen Botschaft Christi mit eingeschlossen.
Der dringende Ruf
Aber das Heil Jesu Christi ist umfassender, das, was er verkündigte, was er lebte und litt und was sein Sieg erstritten hat, zielt auf ein Weiteres, Größeres hin, das im Psalm 2 so ausgesprochen ist: Ich, Gott, habe meinen König eingesetzt auf Zion. Er ist mein Sohn, und ich werde ihm die Völker der Erde zum Erbe geben und die ganze Welt zum Eigentum. Mit dieser Botschaft von der Herrschaft Gottes durch seinen Sohn über den ganzen Kosmos, und also auch über die ganze Erde, ist Jesus Christus zu uns gekommen. Sein Ruf heißt:
Kehrt euch ab von eurem Untertansein unter falsche Götter und Herren, darin ihr versklavt seid, unterdrückt von Mächten, die sich gegen Gott empören, und wendet euch dem wahren Gott zu und seiner befreienden Herrschaft.
Die Botschaft Jesu Christi heißt „Reich Gottes“, oder nach dem Urtext „Königsherrschaft Gottes“. Gemeint ist damit eine Herrschaft, die mit dem König dieses Reiches, den Gott eingesetzt hat, beginnt, die ihren ersten Stützpunkt gewinnt in der Gemeinde derer, die gerufen sind und sich sammeln lassen unter die Herrschaft dieses Königs, eine Herrschaft also, die sich mit einzelnen gewonnenen Seelen nicht zufrieden gibt, sondern weiter ausgreift, bis sie die ganze Welt umfasst.
Dieser von Gott eingesetzte König, Jesus Christus, herrscht und wird so lange herrschen, bis alles, was Gott noch feindlich im Wege steht, von ihm besiegt ist. Dann aber, wenn ihm alles unterworfen sein wird, dann wird auch der Sohn selbst sich dem Vater unterwerfen, damit Gott sei alles in allem (vgl. 1. Korinther 15, 4-27).
In dieser großen Hoffnung hat die zweite Bitte des „Vater unser“ ihre Quelle. Daher ist sie in der christlichen Gemeinde vom Loblied über die Herrlichkeit dieses Reiches von dessen erstem keimenden Anfang bis zur Vollendung begleitet:
Dann ist das Reich voll offenbar, als Gegenwart zur Stelle:
Ein ewigwährend gülden Jahr mit Recht und Fried und Helle.
N.F.S. Grundtvig – W. Görnandt
Herkunft: https://www.ojc.de