Geben ist seliger als Nehmen.
“Geben ist seliger denn Nehmen”, das ist ein Sprichwort. Aber vermutlich nicht alle, die dieses Sprichwort in den Mund nehmen, wissen, dass es ein Wort aus der Bibel ist. Dieses kleine Wörtchen “denn” verwenden wir bei Vergleichen ja heute nicht mehr, wir sagen stattdessen “als”. Und in der Tat steht heute in unserer Lutherbibel: “Geben ist seliger als nehmen”. Trotzdem, im Sprichwort ist uns der alte Wortlaut aus der Lutherbibel erhalten geblieben: “Geben ist seliger denn Nehmen”.
Gib dem, der dich bittet, und weise den nicht ab, der von dir borgen will.
Apostelgeschichte 20:35; Matthäus 5:42
Der Mantel unserer Großmutter war zu unmodern geworden und wir redeten ihr zu, einen neuen zu kaufen. Eines Tages ging sie auch los, und wir glaubten, sie würde mit einem neuen zurückkommen. Aber bald merkten wir, dass der Einkauf wieder um ein Jahr verschoben worden war. Denn das Geld war stattdessen zu der armen Witwe B. gewandert, deren Herd noch deutlich antiquierter war als der Mantel unserer Großmutter. Die Witwe saß mit ihrem Kind den ganzen Tag in dickem Rauch oder sie froren, weil sie die Fenster aufsperrten, um ihn hinauszulassen. Der neue Herd war eine echte Wohltat und die Witwe erzählte überall glücklich, wie viel Kohlen sie nun sparte.
Im nächsten Jahr versuchen wir es erneut. „Ja, Kinder, ihr habt recht, morgen werde ich mir gewiss Mäntel ansehen“, meinte die Großmutter und steckte behutsam das Geld, das dafür bestimmt war, in die Tasche. Dann sagte sie zu der Tochter, die sie begleiten wollte: „Weißt du, ich will gern mit dir gehen, aber einen Mantel möchte ich doch lieber erst im nächsten Jahr kaufen.
Lies nur diesen Brief! Der liebe Bruder B. draußen in der ärmlichen Vorstadt möchte gern einige gute Bücher für die Kinderstunde haben. Für wie viele würde das ein Segen sein, und der Mantel hilft nur einem einzigen Menschen und ist nicht einmal dringend nötig. Stell dir bloß vor: Genau die Summe, die ich für den Mantel bestimmt hatte, nennt er als ausreichend. Ist das nicht sonderbar? Da muss ich sie ihm doch schicken.“
So wurde der Mantel immer älter und das Gesicht unserer Großmutter immer glücklicher, wenn sie ihn ansah. „Wie viel Dank bin ich doch dem Herrn schuldig“, sagte sie, „dass Er mir durch den Mantel so manche glückliche Stunde bereitet und mich die kostbare Erfahrung hat machen lassen, dass Geben seliger ist als Nehmen.“
Anvertraute Zeit
Jedem von uns sind täglich 24 Stunden zur Verfügung gestellt. Wir dürfen diese Zeit füllen und müssen das auch. So oder so. Nach 24 Stunden sind sie vorbei. Kann es sein, dass wir häufig Raubbau mit unserer Zeit betreiben? Wir versuchen, möglichst viel darin unterzubringen und spüren doch, dass damit anderes verloren geht. Es gehört heute Mut dazu, manches sein zu lassen. Wer sich aber auf diesen Weg einlässt, wird ein Stück Lebensqualität wiederentdecken – für sich selbst und für andere.
Der internationale Bestsellerautor und Unternehmensberater Stephen R. Covey stellt in einem seiner Bücher die Frage:
“Wer bedauert auf dem Sterbebett, dass er nicht mehr Zeit im Büro verbracht hat?”
Wahrscheinlich niemand. Die Perspektive der Ewigkeit ist hilfreich für die Frage nach unserer Lebensgestaltung hier.
So heißt es in Psalm 90:12: “Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.” Vom Ende her denkend fällt es uns leichter zu fragen: Was ist wirklich wichtig?
Vieles ist für uns selbstverständlich: ein Dach über dem Kopf, die Kleidung, genügend Essen, Wasser … Erst wenn es uns fehlt, wird uns bewusst, wie gut wir eigentlich bisher gelebt haben. Ein Perlensucher suchte überall auf der Welt nach der kostbarsten Perle. Eines Tages, er wusste selbst nicht, wie es gekommen war, fand er die große, herrliche Perle, schön und kostbar – viel kostbarer, als er es sich in den kühnsten Träumen hätte träumen lassen.
Als er sie ansah, wurde er traurig, denn es war ihm klar, dass er sie nie besitzen könnte; dazu hatte er nicht genug Geld. Da erschien der Besitzer der Perle. Er erkannte seine Trauer und sagte: “Du kannst diese Perle haben” – “Aber ich kann sie doch niemals bezahlen.” – “Pass auf: Du brauchst mir dafür nur alles zu geben, was du hast. Wenn du viel hast, musst du mir viel geben, wenn du aber nur wenig hast, brauchst du mir auch nur wenig zu geben. Nur das, was du gerade hast, ist der Preis für diese Perle. Willst du das?”
Der Mann bejahte das freudig. Dann fragte der Perlenbesitzer weiter: “Was hast du denn?” – “O, ich habe gar nicht viel, ich weiß nicht genau. Da sind vielleicht fünftausend Euro auf dem Konto. Das, was man so in Reserve hat.” – “Nun gut”, sagte der Perlenbesitzer, “dann gehört das jetzt mir. Hast du noch etwas?” – “Ja, noch etwas Bargeld in der Brieftasche. Was man so mit sich führt, damit man sich bewegen kann.” – “Gut, dann gehört mir das jetzt auch. Hast du noch etwas?” – “Ich wusste nicht, was ich noch hätte.” – “Ja, aber wo wohnst du denn?” – “Ach, ich wohne in unserem Haus.” – “Ein Haus hast du? Dann gehört mir das auch.” – “Ja, sollen wir denn in unserem Wochenendhäuschen wohnen?” – “Also ein Wochenendhaus hast du auch. Nun, gut, das gehört mir auch.” – “Ja, aber wo sollen wir denn jetzt schlafen? Sollen wir denn endgültig in unseren Wohnwagen ziehen?” – “Ach, einen Wohnwagen und ein Auto hast du auch?” – “Ja, aber kein Besonderes …” – “Dann gehört mir das jetzt auch.” – “Dann stehe ich ja mit meiner Frau und den Kindern auf der Straße.” – “Die gehören mir auch!” – “Dann bin ich ja nur noch ganz allein übrig!”
“Und du gehörst mir jetzt auch. Und nun gebe ich dir diese Perle, aber höre gut zu: Ich erlaube dir, dass du in dem Haus, das dir vorher gehört hat und das jetzt mir gehört, weiter wohnen darfst. Aber vergiss nicht, dass es mein Haus ist, du bist nur der Verwalter dieses Hauses. Du darfst auch mit deiner Frau weiter zusammen wohnen, aber vergiss nicht, sie ist meine Frau, und es ist meine Ehe. Lebe jetzt nach meinen Regeln mit deiner Frau und deinen Kindern zusammen. Selbst das Wochenendhaus und das Auto und das, was du in der Brieftasche hast, alles das gebe ich dir jetzt zur Verwaltung.”
Ja, so ist es. Und vielleicht sollten wir das Tischgebet, das wir alle kennen und wohl auch regelmäßig sprechen, in dieser Hinsicht einmal ganz bewusst bedenken: “Alle guten Gaben, alles, was wir haben, kommt, o Gott, von dir …” Ja, alles, was wir haben, kommt von Gott. Er hat es uns gegeben zur Verwaltung. Er hat es uns anvertraut, damit wir verantwortungsvoll damit umgehen.
Jetzt verstehen wir auch besser, warum Geben seliger ist als Nehmen.
Wenn ich etwas nehme, das mir nicht gehört, dann eigne ich es mir unrechtmäßig an. Wenn alles, was wir haben, uns von Gott nur anvertraut ist, dann steht es mir nicht zu, völlig nach Belieben darüber zu verfügen. Vielmehr muss ich im Sinne des Besitzers, des Eigentümers damit umgehen. Eigentümer ist Gott. Deshalb ist das, was er will, der Maßstab, wie ich mit den Gaben, die mir anvertraut sind, umgehe. Gottes Wille ist der eine Grund, warum Geben seliger ist als Nehmen.
Der zweite Grund liegt im Wesen Gottes. Es gehört zu den Wesensmerkmalen Gottes, zu seinen “Charaktereigenschaften”, dass er gibt. Gott gibt gerne. Und er gibt viel. Johann Scheffler (1624-1677), auch Angelus Silesius, der “schlesische Bote” genannt, drückt es einmal so aus: “Gott, weil er groß ist, gibt am liebsten große Gaben, ach, dass wir Armen nur so kleine Herzen haben.” Gott gibt, weil er liebt. Gott gibt alles, sogar seinen eigenen Sohn:
“Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben” (Johannes 3:16).
Und Paulus fragt deshalb: “… wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?” (Römer 8:32 b). Wenn aber Gottes Wesen darin besteht, dass er gerne gibt, dann ist das auch das eigentliche Vorbild für uns Menschen, die wir nach Gottes Ebenbild geschaffen sind. Und wenn wir als Christen leben, also in der Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott, dann wird es unser Wunsch sein, uns auch im Geben Gott selbst zum Vorbild zu nehmen.
Nun mag sich mancher trotzdem denken: Schön und gut, aber das hört sich alles sehr nach Moral an, nach Verpflichtung, nach Tun-Müssen, nach Unfreiheit.
Wie gut, dass Gott uns durch und durch kennt, dass er uns ins Herz schauen kann, dass er unsere innersten Beweggründe durchschaut und wir ihm nichts vormachen können. Durch zähneknirschendes Geben können wir Gott weder beeindrucken noch erfreuen. Der Apostel Paulus bringt das einmal sehr treffend auf den Punkt. Im Hinblick auf eine Sammlung für die Gemeinde in Jerusalem schreibt er den Korinthern: “Wer da kärglich sät, der wird auch kärglich ernten; und wer da sät im Segen, der wird auch ernten im Segen. Ein jeder, wie er’s sich im Herzen vorgenommen hat, nicht mit Unwillen oder aus Zwang; denn einen fröhlichen Geber hat Gott lieb” (2. Korinther 9:6 f). Also nicht mit Unwillen oder aus Zwang!
Und dass dies nicht nur für Geld zutrifft, das macht folgende kleine Geschichte deutlich:
Ein Ehepaar feiert goldene Hochzeit. Beim gemeinsamen Frühstück denkt die Frau: Seit fünfzig Jahren nehme ich auf meinen Mann Rücksicht und gebe ihm das knusprige Oberteil des Brötchens. Heute will ich es mir endlich selbst gönnen. Sie schmiert das Oberteil des Brötchens für sich und gibt die andere Hälfte ihrem Mann.
“Mein Liebling”, ruft dieser hocherfreut, “was für ein wunderbarer Tagesbeginn! Fünfzig Jahre lang habe ich auf das Brötchen-Unterteil verzichtet, obwohl ich es am liebsten mag. Ich dachte immer: Es schmeckt dir so gut, und darum sollst du es auch haben.”
Wir sehen daran: Verzichten kann unglaublich froh machen, verschenken kann unvorstellbar reich machen.
Und denken wir daran: Es geht beim Geben nicht nur um unser Geld, sondern genauso um unsere Zeit, unsere Kraft, unsere Fantasie, unsere Talente, Nähe, Verständnis und vieles mehr … Wer die Freiheit zum Geben entdeckt, der wird selbst dadurch reich beschenkt. Es macht einfach Freude …
Herkunft: Unterschiedliche Quellen