„Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR ist einer. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.“ (5. Mose 6:4-9)
Das „Schma Israel“
Schma Israel, Adonai Eloheinu, Adonai Echad! „Höre, Israel! Der HERR ist unser Gott, der HERR ist einer!“
Diese Worte sind bekannt als das Schma – als das zentrale Gebet des Judentums. Es gilt als das wichtigste Bekenntnis des jüdischen Glaubens. Als solches unterscheidet es sich von unseren christlichen Glaubensbekenntnissen, die normalerweise in einer Reihe von Erklärungen erfolgen: „Wir glauben …“ Das jüdische Bekenntnis dagegen ist nicht so sehr eine „Wir glauben“-Aussage, sondern eine göttliche Anweisung, zu hören, auf die Stimme Gottes zu hören hinsichtlich dessen, wer er ist – der eine wahre Gott.
Das Schma hat einen solch heiligen Stellenwert, dass der kurze Ausdruck „Schma Israel“ dem Namen Gottes gleichkommt. Es wird oft nur durch den Buchstaben ש[Schin] symbolisiert.
Laut dem bedeutenden jüdischen Weisen Schammai, der etwa zur Zeit Jesu lebte, soll jeder Jude das Schma mindestens zweimal am Tag beten, wie es die Textstelle 5. Mose 6:4-9 vorgibt: Es soll gesprochen werden, „wenn du dich niederlegst“ [am Abend] und „aufstehst“ [am Morgen].
Das gesamte tägliche Gebet besteht aus drei biblischen Textstellen. Die erste stammt aus 5. Mose 6:4-5 – das Gebot, den Herrn „von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft“ zu lieben. Der zweite Teil des traditionellen Schma-Gebets findet sich in 5. Mose 11:13-21. Diese Verse unterstreichen die geistliche Bedeutung des Gebets: Segen kommt mit Gehorsam, doch sollte sich Israel von Adonai abwenden, würde es „ausgetilgt werdet aus dem guten Lande“ (Vers 17), das der Herr ihnen gegeben hat.
Der dritte Teil umfasst schließlich 4. Mose 15:15-41. Hier wird geboten, praktische Schritte zu unternehmen, um das Schma in tägliche Rituale und Gebräuche zu integrieren. Das schließt das Gebot ein, Quasten (Zizit) an der Kleidung und eine Mesusa an jedem Türpfosten anzubringen und die Gebetsriemen (Tefillin) um den Arm und auf die Stirn zu binden. All das ist in dem genannten Bibelabschnitt enthalten. Die uralte Tradition, diese Texte im Schma-Gebet zu kombinieren, geht mehr als 2.000 Jahre zurück und wird bereits in den Qumran-Schriftrollen erwähnt.
Ein Gebet für Leben und Tod
Rabbiner lehren, dass jeder Jude mit jeder Rezitation des Schma-Gebets das Joch des Reiches Gottes auf seine Schultern nimmt. Das Schma ist das erste Gebet, das jüdischen Kindern beigebracht wird, wenn sie anfangen, sprechen zu lernen. Und es ist das letzte Gebet, das ein Jude auf seinem Sterbebett spricht. Es wurde besonders wegen seines dramatischen Gebrauchs während des Holocaust bekannt.
Der ehemalige israelische Oberrabbiner Israel Meir Lau hat oft erzählt, dass während des Holocaust viele jüdische Kinder in christlichen Waisenhäusern versteckt wurden. Als diese jüdischen Kinder nach dem Krieg gesucht wurden, war es oft schwierig, die jüdischen von den christlichen Heranwachsenden zu unterscheiden. Doch Rabbi Lau erklärte, es habe bereits ausgereicht, die Worte „Schma Israel“ anzustimmen, denn die jüdischen Kinder antworteten instinktiv mit den Worten „Adonai Eloheinu, Adonai Echad.“ Viele dieser geretteten Kinder leben heute noch in Israel.
Zudem starben mehr als eine Million Juden mit dem Schma-Gebet auf den Lippen in den Gaskammern der Nazis in Auschwitz, mehr als 33.000 ukrainische Juden sprachen es, als sie beim Massaker in Babi Jar außerhalb von Kiew ermordet wurden, ebenso wie viele Juden, die an der Exekutionsmauer des Konzentrationslagers Sachsenhausen bei Berlin erschossen wurden.
Das wichtigste Gebot
Wir müssen uns fragen: Hat das Schma eine Bedeutung für uns als Christen und für die Kirche? Jesus selbst gibt darauf die Antwort. Gefragt, welches das wichtigste Gebot der Bibel sei, sagte er: „Das höchste Gebot ist das: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft«.“ (Markus 12:29-30)
Jesus zufolge ist es das biblische Gebot mit der höchsten Bedeutung für seine Jünger und alle, die ihm nachfolgen. Für Christen ist es beachtenswert, dass Gott seine Beziehung zu seinem Volk am deutlichsten über das Hören definiert: „Höre, Israel!“
Gott hätte auch andere Sinne nutzen können, um seine Beziehung zu uns zu erklären. Neben dem Hören können wir auch schmecken, tasten, fühlen, sehen und sogar riechen. Jesus selbst fordert seine Jünger wiederholt auf: „Kommt und seht“. Er hätte zum Beispiel Psalm 34:9 als prägenden Vers für unsere Beziehung zu ihn nehmen können: „Schmecket und sehet, wie freundlich der HERR ist!“
Die mittelalterlichen Kathedralen mit ihren beeindruckenden Buntglas-Fenstern, vergoldeten Statuen, Malereien und der von Weihrauch erfüllten Luft haben besonders die Sinne angesprochen. Doch das Hören kam bedauerlicherweise viel zu kurz. Damals wurde auf Lateinisch gepredigt, in einer Sprache, die nur wenige verstanden. Auch heute werden unsere Gefühle durch spektakuläre neue Kirchengebäude und ganzheitliche Erfahrungen in unseren Gottesdiensten gut bedient, doch oft vergessen wir, dass das Reich Gottes weniger ein „Show-Geschäft“ als ein „Hör-Geschäft“ sein sollte.
Herausforderung „Hören“
Interessanterweise war es gerade das „Hören“, mit dem Israel oft Probleme hatte. Der Prophet Jeremia ist Israel wiederholt angegangen, weil sie nicht auf das hörten, was Gott gesprochen hatte: „Hört doch dieses, törichtes Volk … die Ohren haben und nicht hören!“ (Jeremia 5:21); „Siehe, ihr Ohr ist unbeschnitten, und sie können nicht achtgeben.“ (Jeremia 6:10); „… und ich zu euch geredet habe, früh mich aufmachend und redend, ihr aber nicht gehört habt, und ich euch gerufen, ihr aber nicht geantwortet habt“ (Jeremia 7:13). Als Konsequenz dessen sah Jeremia, dass Israel von Gott gerichtet und nach Babylon ins Exil verbannt wurde.
Wenn wir uns selbst gegenüber ehrlich sind, war das nicht nur Israels Problem – sehr oft ist es heute auch unser Problem. Sogar die Jünger kämpften mit dem Hören und Verstehen der Botschaft Jesu (Markus 8:17ff; 16:14). Das bedeutet, dass wir alle wachsam sein müssen, wie wir hören. Dementsprechend mahnt Jesus seine Jünger: „Seht nun zu, wie ihr hört!“ (Lukas 8:18) Das heißt, in Jesu Augen gibt es Hören und „echtes Hören“. Man kann hören, aber nicht wirklich zuhören, was Gott spricht. Es ist ein andauerndes Ringen, ihn zu hören, was vielleicht die größte Herausforderung für uns als Gläubige darstellt.
Seien wir ehrlich! Wie viele Predigten haben wir gehört, an wie vielen Bibelstunden teilgenommen, wie oft haben wir die Bibel gelesen – und doch hat sich so wenig in unserem Leben geändert. Allzu oft wählen wir zwischen dem, was wir hören wollen, und dem, was wir als nicht relevant für uns erachten. Schon zur Zeit des Paulus wurden Christen von Lehrern angezogen, „nach denen ihnen die Ohren jucken“ (2. Timotheus 4:3), die lehrten, was die Menschen hören wollten – und nicht, was sie hören mussten. Mehr noch, oft werden wir im Herzen durch eine Predigt oder in unserer täglichen Bibellese von Gottes Stimme berührt, doch unser beschäftigter Lebensstil lenkt uns gleich wieder ab und wir werden zu dem, was der Apostel Jakobus „vergessliche Hörer“ nennt (Jakobus 1:23ff).
Gott spricht auf viele Arten zu uns. Natürlich hauptsächlich durch das Wort Gottes, die Bibel, und durch die Predigt des Wortes Gottes. Doch oft spricht er auch durch Umstände zu uns oder in unserem ganz normalen Alltag. Aber hören wir zu?
Empfänglich für Gottes Reden
Ich erinnere mich gut an einen Besuch in Holland vor einigen Jahren. Mit unserem niederländischen nationalen Direktor Jacob Keegstra besuchte ich Westerbork, eines der wenigen Konzentrationslager in den Niederlanden. Als wir durch den Wald nach Westerbork gingen, kamen wir an einigen riesigen Radioteleskopen vorbei, die gen Himmel gerichtet waren. Jacob erklärte mir, dort könnten selbst die schwächsten Signale aus dem Weltraum aufgespürt werden. Wie erstaunlich die Menschheit ist. Wir sind so fortschrittlich, dass wir die leisesten Geräusche aus dem All hören können, aber dort in Westerbork, ebenso wie in Dachau und Auschwitz, versagte die Menschheit, den ohrenbetäubenden Schrei Gottes zu hören: „Wo ist dein Bruder Abel?“ In unserem geschäftigen Leben können wir nicht hören, wie er uns sogar jetzt noch zuruft: „Adam, wo bist du?“ Schma Israel!
Doch manche haben während Hitlers Herrschaft in Deutschland zugehört, wie Pfarrer Theodor Dipper (1906-1967), der Dutzende anderer Pastoren im Raum Stuttgart anführte, um während des Holocaust Juden zu verstecken und zu retten – unter Einsatz ihres eigenen Lebens. Und Pastor Dietrich Bonhoeffer predigte regelmäßig gegen Hitler und sein irreführendes und böses Reich.
Gott spricht auch heute noch, durch Israel. Der Schweizer Theologe Karl Barth schrieb 1967, als Jerusalem nach dem Sechs-Tage-Krieg wiedervereint war: „Jetzt können wir es in den Zeitungen lesen: Gott hält seine Versprechen!“ Doch hören wir zu? Reagieren wir, wenn er spricht? Und handeln wir auf das hin, was wir hören und sehen? Schma Israel!
In den Tagen Elias sprach Gott durch drei Jahre verheerender Dürre zu seinem Volk. Das Leben wurde sehr schwer, als die Ernten verloren waren, Menschen verhungerten und kein lebenserhaltendes Wasser hatten. Sicherlich sind Menschen gestorben. Aber als Elias Stimme vom Berg Karmel erklang, heißt es: „Wie lange hinkt ihr auf beiden Seiten? Ist der HERR Gott, so wandelt ihm nach, ist’s aber Baal, so wandelt ihm nach. Und das Volk antwortete ihm nichts.“ (1. Könige 18:21)
Hören wir zu?
Die Frage ist: Hören wir inmitten der gegenwärtigen Corona-Krise? Ich bin beunruhigt, wenn Menschen sagen, alles, was sie wollen und wofür sie beten, ist die Rückkehr zur Normalität, zu dem Leben, das sie vor Corona führten. Ein paar Tage, bevor die Corona-Pandemie über uns hereinbrach, sprach Gott zu uns bei der Christlichen Botschaft durch den Propheten Haggai. Dieser sah voraus, dass eine große Erschütterung über die Erde kommen würde. Es ist eine Zeit des göttlichen Neustarts, in der Gott uns zu ihm zurückruft, zu mehr Gebet, mehr Zeit in seiner Gegenwart und zu einer Neubewertung der Prioritäten in unserem Leben. Hören wir zu?
Schma Israel bedeutet für uns nicht nur zu hören, sondern auch zu handeln. Unser Hören muss sich in der praktischen Veränderung zeigen, wie wir mit unseren Nächsten umgehen, unseren Ehepartnern und Kindern oder wie wir unsere Zeit verbringen und unser Geld ausgeben. „Höre, Israel“ heißt, dass all unser Sein, unsere Kraft, unser Herz und unser Verstand in Liebe auf Gott ausgerichtet sind.
Denken wir daran, dass Schma Israel für Juden bedeutet, das Joch des Reiches Gottes auf sich zu nehmen. Es unterstellt uns somit einer höheren Autorität: Der Herr ist Gott, der Herr ist einer! Er ist der Schöpfer des Himmels und der Erde, er ist Ihr Schöpfer und mein Schöpfer. Er ist der König der Könige und der Herr der Herren. Deshalb beansprucht er, die ultimative Autorität über unser Leben zu haben – bis ins kleinste Detail. Doch er möchte das als liebender Vater tun, der unser Bestes will und weiß, was gut für jeden von uns ist.
Gleichzeitig ist er derjenige, der die Lebenden und die Toten richten und uns für jedes unnütze Wort zur Rechenschaft ziehen wird. Deshalb ist zuhören und entsprechend antworten am weisesten und vernünftigsten für unser aller Leben. Es ist dieser Ruf, den der Hebräerbrief an uns alle richtet: „Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht.“ (Hebräer 4:7).
Lassen Sie uns sowohl Hörer als auch Täter des Wortes Gottes sein! Schma Israel!
Herkunft: Dr. Jürgen Bühler, ICEJ-Präsident / 5. Okt 2021